Delirium
Leute â und dann setzt ein neues Lied ein, das genauso wild und schön ist, und es kommt mir vor, als streckte sich die Musik über den riesigen schwarzen Zwischenraum hinweg und zupfte mich an meinem Herzen, in meinem Innersten, als schlüge sie mich an wie eine Saite. Ich mache mich auf den Weg hügelabwärts zur Scheune. Das Komische ist, ich tue es nicht bewusst. Meine FüÃe gehen einfach von alleine, als wären sie zufällig auf irgendeiner unsichtbaren Schiene und alles wäre nur ein Gleiten, Gleiten, Gleiten.
Einen Augenblick vergesse ich, dass ich eigentlich nach Hana suche. Ich bin wie in einem Traum, in dem seltsame Dinge geschehen, die sich aber nicht seltsam anfühlen. Alles ist unscharf â alles ist in Nebel gehüllt â und von Kopf bis Fuà erfüllt mich ein einziger, dringlicher Wunsch: Ich möchte mich der Musik nähern, die Musik besser hören, will, dass sie immer weiterspielt.
»Lena! O Mann, Lena!«
Das reiÃt mich aus meiner Benommenheit und mir wird plötzlich bewusst, dass ich in einem riesigen Menschengewühl stehe.
Nein. Nicht einfach Menschen. Jungen. Und Mädchen. Alle sind ungeheilt, keine Spur eines Makels an ihrem Hals â zumindest bei denen, die nahe genug sind, dass ich sie gründlich mustern kann. Jungen und Mädchen, die sich unterhalten. Jungen und Mädchen, die lachen. Jungen und Mädchen, die sich einen Becher teilen. Plötzlich fürchte ich, gleich ohnmächtig zu werden.
Hana kommt auf mich zugestürmt, sie nimmt die Ellbogen zu Hilfe, um sich zwischen den Leuten durchzuzwängen, und bevor ich auch nur den Mund aufmachen kann, springt sie mich an wie bei der Abschlussfeier und umarmt mich fest. Ich erschrecke so, dass ich rückwärtsstolpere und beinahe hinfalle.
»Du bist hergekommen.« Sie löst sich von mir und starrt mich an, lässt ihre Hände jedoch auf meinen Schultern liegen. »Du bist wirklich gekommen.«
Ein weiteres Lied geht zu Ende und die Sängerin â sie ist nicht besonders groà und hat lange schwarze Haare â ruft etwas von einer Pause. Als mein Gehirn langsam wieder hochfährt, denke ich etwas total Dämliches: Sie ist sogar noch kleiner als ich und trotzdem singt sie vor fünfhundert Leuten.
Dann denke ich: Fünfhundert Leute, fünfhundert Leute, was mache ich hier mit fünfhundert Leuten?
»Ich kann nicht bleiben«, sage ich schnell. Sobald die Worte ausgesprochen sind, bin ich erleichtert. Was auch immer ich hier beweisen wollte, habe ich bewiesen. Jetzt kann ich wieder gehen. Ich muss raus aus dieser Menge, dem Stimmengewirr, der wogenden Mauer aus Brüsten und Schultern um mich herum. Ich war eben zu sehr in der Musik gefangen, um mich umzusehen, aber jetzt nehme ich alles wahr: die Farben und den Parfümgeruch und Hände, die sich um uns herum drehen und strecken.
Hana klappt den Mund auf â vielleicht um etwas zu entgegnen â, aber in diesem Moment werden wir unterbrochen. Ein Junge, dem seine aschblonden Haare ins Gesicht fallen, schiebt sich mit zwei groÃen Plastikbechern zu uns durch und reicht Hana einen davon. Sie nimmt ihn, bedankt sich und wendet sich dann wieder mir zu.
»Lena«, sagt sie, »das ist Drew, ein Freund von mir.« Einen Augenblick sieht sie schuldbewusst aus, aber dann lächelt sie wieder so breit wie immer, als stünden wir mitten in der Schule und unterhielten uns über einen Biotest.
Ich öffne den Mund, aber es kommen keine Wörter heraus, was wahrscheinlich gut ist, denn in meinem Kopf ist ein riesiger Feueralarm angesprungen. Es klingt vielleicht dumm und naiv, aber nicht einen Augenblick lang auf dem Weg zur Farm habe ich auch nur in Erwägung gezogen, dass die Party gemischtgeschlechtlich sein könnte. Auf die Idee bin ich überhaupt nicht gekommen.
Die Ausgangssperre zu missachten ist eine Sache. Unerlaubte Musik zu hören sogar noch schlimmer. Aber gegen die Regeln zur Geschlechtertrennung zu verstoÃen ist eines der schlimmsten Verbrechen, die es gibt. Deshalb wurde Willow Marksâ Eingriff vorgezogen und ihr Haus beschmiert. Deshalb wurde Chelsea Bronson von der Schule geworfen. Sie war angeblich dabei erwischt worden, wie sie mit einem Jungen von der Spencer-Schule gegen die Ausgangssperre verstieÃ, und deshalb wurden ihre Eltern seltsamerweise gefeuert und die ganze Familie gezwungen, ihr Haus zu räumen. Und zumindest in Chelsea
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