Delirium
mich plötzlich sehr einsam.
»Bleib«, sagt Hana leise. Obwohl es eine Aufforderung ist, nehme ich ein Zögern in ihrer Stimme wahr, als stellte sie eine Frage. »Dann kriegst du den zweiten Teil noch mit.«
Ich schüttele den Kopf. Ich wünschte, ich wäre nicht hergekommen. Ich wünschte, ich hätte das hier nie gesehen. Ich wünschte, ich wüsste nicht, was ich jetzt weiÃ, könnte morgen aufwachen und zu Hana rüberfahren, mit ihr am Strand des Eastern Promenade Park liegen und darüber jammern, wie langweilig Sommerferien sind, wie immer. Könnte glauben, dass sich nichts verändert hat. »Ich geh dann«, sage ich und wünschte, meine Stimme würde nicht so zittern. »Es ist aber okay. Du kannst ruhig bleiben.«
In dem Moment, als ich es ausspreche, wird mir bewusst, dass sie mir gar nicht angeboten hat, mich zu begleiten. Sie sieht mich mit einer eigenartigen Mischung aus Bedauern und Mitleid an.
»Ich kann mitkommen, wenn du willst«, sagt sie, aber das bietet sie jetzt nur an, damit ich mich nicht schlecht fühle.
»Nein, nein. Schon okay.« Meine Wangen glühen und ich mache einen Schritt zurück, ich will endlich hier weg. Ich stoÃe gegen jemanden â einen Jungen â, der sich umdreht und mich anlächelt. Ich löse mich schnell von ihm.
»Lena, warte.« Hana will mich wieder festhalten. Obwohl sie bereits ein Getränk in der Hand hat, schiebe ich ihr meinen Becher in die andere Hand, so dass sie innehalten muss und kurz die Stirn runzelt, während sie versucht, mit beiden Getränken in der Armbeuge zu jonglieren, und in diesem Augenblick tänzele ich rückwärts aus ihrer Reichweite.
»Ist schon okay, wirklich. Wir reden morgen.« Dann schiebe ich mich durch eine enge Lücke zwischen zwei Leuten â das ist der einzige Vorteil daran, eins siebenundfünfzig zu sein, man findet leichter solche Zwischenräume â und bevor ich weiÃ, was geschieht, ist Hana hinter mir zurückgeblieben und von der Menge verschluckt worden. Ich bahne mir einen Weg von der Scheune weg, den Blick gesenkt, und hoffe, meine Wangen kühlen bald wieder ab.
Bilder wirbeln vorbei, verschwommen, und erneut ist es wie in einem Traum. Junge. Mädchen. Junge. Mädchen. Sie lachen, drängeln, berühren einander an den Haaren. Ich habe mich noch nie, nicht ein einziges Mal in meinem ganzen Leben, so anders und fehl am Platz gefühlt. Ein hohes, mechanisches Kreischen ertönt und dann fängt die Band wieder an zu spielen, aber diesmal gibt mir die Musik überhaupt nichts. Ich bleibe noch nicht mal stehen. Ich gehe einfach weiter, auf den Hügel zu, und stelle mir die kühle Stille der sternenbeschienenen Felder vor, die vertrauten dunklen StraÃen Portlands, den gleichmäÃigen Rhythmus der Patrouillen, die leise im Gleichschritt dahinmarschieren, die Rückkopplung ihrer Walkie-Talkies â regelmäÃig, normal, vertraut, meins.
SchlieÃlich lichtet sich die Menge. Es war heià zwischen so vielen Menschen, und die frische Brise pikst auf meiner Haut und kühlt mein Gesicht. Die Scheune ist zum Himmel und zur Nacht hin offen. In ihr glüht es weià vom Licht, und sie erinnert mich an eine gewölbte Hand, die eine kleine Flamme birgt.
»Lena!«
Es ist eigenartig, dass ich die Stimme sofort erkenne, obwohl ich sie erst ein einziges Mal für zehn, höchstens fünfzehn Minuten gehört habe â es ist das Lachen, das sie begleitet, wie wenn sich jemand in einer öden Unterrichtsstunde zu dir rüberbeugt, um dir ein richtig gutes Geheimnis zu verraten. Alles erstarrt. Das Blut hört auf, durch meine Adern zu strömen. Mein Atem hört auf zu flieÃen. Einen Augenblick verstummt sogar die Musik. Alles, was ich höre, ist ein leises und regelmäÃiges, angenehmes Geräusch, wie das entfernte Schlagen einer Trommel, und ich denke: Ich höre mein Herz. Allerdings weià ich, dass das nicht sein kann, weil mein Herz auch erstarrt ist. Mein Blick wird wie durch den Zoom einer Kamera wieder scharf und ich sehe nur Alex, der sich durch die Menge hindurchzwängt und auf mich zukommt.
»Lena! Warte.«
Kurz blitzt Panik in mir auf â eine wirre Sekunde lang denke ich, er muss als Mitglied einer Patrouille hier sein und es gibt eine Razzia oder so was â, aber dann sehe ich, dass er normal gekleidet ist, in Jeans, seinen abgewetzten
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