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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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irgendwie ziemlich runtergekommen, oder? Meine Schwester sagt immer, eines Tages fällt sie ins Meer, kippt einfach um.«
    Alex lacht. »Ich habe nicht von der Brücke gesprochen.« Er macht nur eine leichte Bewegung mit dem Kinn. »Ich meinte dahinter.« Er hält den Bruchteil einer Sekunde inne. »Ich meinte die Wildnis.«
    Hinter Tukey’s Bridge liegt die Nordgrenze, die am entgegengesetzten Ende von Back Cove entlang verläuft. Während wir dort stehen, gehen die Lichter in den Wachhäuschen an, eins nach dem anderen, und leuchten gegen den immer dunkler werdenden blauen Himmel an – ein Zeichen, dass es spät wird und ich bald nach Hause muss. Ich kann mich aber nicht überwinden zu gehen, noch nicht mal, als ich spüre, wie das Wasser an meiner Brust anfängt zu strudeln und zu wirbeln. Die Flut kommt. Jenseits der Brücke bewegt sich das saftige Grün der Wildnis gleichmäßig im Wind wie eine sich endlos neu formierende Mauer, ein dichter Keil aus Grün, der sich einen Weg zur Casco Bay bahnt und Portland von Yarmouth trennt. Von hier aus können wir gerade mal ein kleines Stück davon sehen, einen leeren Fleck ohne Lichter, ohne Boote, ohne Gebäude: schwarz und undurchdringlich, eigenartig. Aber ich weiß, dass die Wildnis sich weiter erstreckt, kilometerweit und immer weiter über das Festland zieht, über das ganze Land, wie ein Monster, das seine Tentakel um die zivilisierten Teile der Welt schlingt.
    Vielleicht liegt es an dem Wettrennen zu den Bojen oder daran, dass ich ihn geschlagen habe, oder an der Tatsache, dass er nichts Böses gegen mich oder meine Familie gesagt hat, als ich ihm von meiner Mutter erzählt habe, aber mich durchströmt immer noch mit aller Kraft das Schwindel- und Glücksgefühl und ich habe den Eindruck, ich könnte Alex alles erzählen, ihn alles fragen. Also sage ich: »Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?« Ich warte seine Antwort nicht ab, das ist nicht nötig, und ich rede einfach weiter. »Ich hab früher viel darüber nachgedacht. Über die Wildnis, meine ich, und wie es dort wohl ist … und über die Invaliden, ob es sie wirklich gibt.« Aus den Augenwinkeln habe ich den Eindruck, dass er leicht zusammenzuckt, daher spreche ich schnell weiter. »Ich habe manchmal gedacht … mir vorgestellt, dass meine Mutter vielleicht gar nicht tot wäre, weißt du? Dass sie vielleicht einfach in die Wildnis abgehauen wäre. Nicht, dass das besser wäre. Wahrscheinlich wollte ich einfach nicht, dass sie ganz weg ist. Es war leichter, mir vorzustellen, sie wäre irgendwo da draußen und würde singen …« Ich breche ab und schüttele den Kopf, erstaunt, dass ich mich so wohlfühle, wenn ich mit Alex rede. Erstaunt und dankbar. »Was ist mit dir?«, frage ich.
    Â»Was soll mit mir sein?« Alex beobachtet mich mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten kann. Beinahe, als hätte ich ihn verletzt, aber das ergibt keinen Sinn.
    Â»Hast du je darüber nachgedacht, in die Wildnis zu gehen, als du klein warst? Nur zum Spaß, meine ich, im Spiel.«
    Alex blinzelt, wendet den Blick ab und zieht eine Grimasse. »Ja, klar. Oft.« Er streckt die Hand aus und schlägt auf die Bojen. »Keine von denen hier. Keine Mauern, gegen die man rennt. Keine Augen. Freiheit und genug Platz, Orte, an denen man sich ausstrecken kann. Ich denke immer noch über die Wildnis nach.«
    Ich starre ihn an. Niemand benutzt mehr solche Wörter: Freiheit, genug Platz . Alte Wörter. »Immer noch? Sogar noch danach?«
    Ohne es zu wollen oder darüber nachzudenken, strecke ich die Hand aus und streiche kurz mit den Fingern über die dreizackige Narbe an seinem Hals.
    Er zuckt vor meiner Berührung zurück, als hätte ich ihn versengt, und ich lasse beschämt die Hand sinken.
    Â»Lena …«, sagt er mit ganz seltsamer Stimme; als wäre mein Name etwas Saures, ein Wort, das ihm einen schlechten Geschmack im Mund verursacht.
    Ich weiß, ich hätte ihn nicht so berühren sollen. Damit habe ich eine Grenze überschritten und er wird mich daran erinnern, was es bedeutet, ungeheilt zu sein. Ich glaube, ich werde vor Demütigung sterben, wenn er jetzt anfängt, mir einen Vortrag zu halten, deshalb plappere ich weiter. »Die meisten Geheilten denken nicht über solche Sachen nach. Carol – das ist meine Tante – sagt

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