Delirium
dort sehe. Plötzlich verschwimmt die ganze Welt und in meinem Hals verspüre ich einen heftigen Schmerz, daher drehe ich mich um und gehe schnell auf mein Haus zu.
»Lena!«, ruft sie mir nach, kurz bevor ich das Tor erreiche.
Ich wirbele herum, mein Herz macht einen Satz, vielleicht sagt sie es jetzt: Ich vermisse dich. Lass uns noch mal von vorn anfangen.
Sogar aus einer Entfernung von fünfzehn Metern kann ich sehen, wie Hana zögert. Dann macht sie diese flatternde Handbewegung und ruft: »Schon gut.« Als sie sich diesmal umdreht, schwankt sie nicht. Sie geht schnell geradeaus, biegt um eine Ecke und ist weg.
Was habe ich erwartet?
Darum geht es doch schlieÃlich: Es gibt kein Zurück.
d r eizehn
In den Jahren, bevor das Heilmittel völlig ausgereift war, wurde es nur auf Versuchsbasis angeboten. Die damit verbundenen Risiken waren hoch. Zu jener Zeit erlitt einer von hundert Patienten nach dem Eingriff einen tödlichen Ausfall seiner Hirnfunktionen.
Trotzdem stürmten die Menschen in Massen die Krankenhäuser, um geheilt zu werden; sie kampierten tagelang vor den Laboratorien in der Hoffnung, einen Termin für den Eingriff zu erhalten.
Diese Jahre sind auch als die Jahre de r Wunder bekannt wegen der Menge an Leben, die Heilung und Vollkommenheit fanden und der Anzahl an Seelen, die von der Krankheit befreit wurden.
Und wenn Menschen auf dem Operationstisch starben, so geschah dies für einen guten Zweck und niemand sollte sie betrauern â¦
Aus: »Die Jahre der Wunder. Die frühe Lehre des Heilmittels«,
Eine kurze Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika von E.D. Thompson
I m Inneren des Hauses ist es sogar noch heiÃer als üblich: eine nasse, den Atem raubende Hitzewand. Carol kocht offenbar. Es riecht nach angebratenem Fleisch und Gewürzen â die Mischung mit den Sommergerüchen nach Schweià und Moder ist irgendwie übelkeiterregend. Die letzten paar Wochen haben wir immer auf der Veranda zu Abend gegessen: triefende Nudelsalate, Aufschnitt und Sandwiches von der Wursttheke meines Onkels.
Carol streckt den Kopf aus der Küche, als ich vorbeigehe. Ihr Gesicht ist rot angelaufen und sie schwitzt fürchterlich. Dunkle Streifen aus Schweià haben unter den Achseln Flecken auf der hellblauen Bluse hinterlassen, dunkelblaue Halbmonde.
»Du ziehst dich besser um«, sagt sie. »Rachel und David werden jeden Moment hier sein.«
Ich habe völlig vergessen, dass meine Schwester und ihr Mann zum Essen kommen wollten. Normalerweise sehe ich Rachel höchstens vier- oder fünfmal im Jahr. Als ich noch kleiner war, besonders nachdem Rachel gerade erst von uns weggezogen war, zählte ich die Tage, bis sie mich wieder besuchen würde. Ich glaube, ich habe das mit dem Eingriff damals noch nicht ganz verstanden, mir war nicht klar, was es für sie, für mich, für uns bedeutete. Ich wusste, dass sie vor Thomas und der Krankheit gerettet worden war, aber das war alles. Wahrscheinlich habe ich gedacht, dass sich ansonsten nichts verändern würde. Ich habe gedacht, dass alles, sobald sie mich besuchen käme, wieder so wäre wie früher, dass wir bei einer Tanzparty unsere Socken ruinieren würden oder dass sie mich auf ihren Schoà ziehen und mir Zöpfe flechten würde, mir eine ihrer Geschichten erzählen â von fernen Ländern und Hexen, die sich in Tiere verwandeln konnten.
Aber sie strich mir beim Eintreten nur flüchtig mit der Hand über den Kopf und spendete höflich Beifall, als Carol mich meine Multiplikations- und Divisionstabellen aufsagen lieÃ.
»Sie ist jetzt erwachsen«, erklärte mir Carol, als ich sie fragte, warum Rachel nicht mehr spielen wollte. »Irgendwann wirst du das verstehen.«
Danach kümmerte ich mich nicht mehr um die Notiz, die alle paar Monate auf dem Wandkalender in der Küche erschien: R zu Besuch .
Die Hauptthemen beim Abendessen sind Brian Scharff â Rachels Mann David ist der Kollege eines Freundes von Brians Cousin, daher betrachtet er sich anscheinend als Experte für die Familie â und das Regional College von Portland, wo ich im Herbst anfangen werde. Das erste Mal in meinem Leben werde ich mit Vertretern des anderen Geschlechts zusammen Unterricht haben, aber Rachel meint, ich solle mir deswegen keine Sorgen machen.
»Du wirst es nicht mal merken«, sagt sie. »Du wirst so beschäftigt sein mit Arbeit und
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