Delirium
vorbeizieht, aber Erinnerungen steigen dicht und schnell vor mir auf wie ein Kartenspiel, das in meinem Kopf neu gemischt wird. Wie Hana an jenem Tag in der zweiten Klasse die Klotür aufstieà und die Arme verschränkte, als sie herausplatzte: Ist es wegen deiner Mutter? Wie wir bei einem der seltenen Male, die wir zusammen übernachten durften, bis nach Mitternacht aufblieben, kicherten und uns ausmalten, wer uns später als Partner vorgeschlagen würde: lauter tolle, unerreichbare Leute wie zum Beispiel der Präsident der Vereinigten Staaten oder unsere Lieblingsschauspieler. Wie wir nebeneinander herliefen und unsere Beine im Gleichschritt auf den Asphalt hämmerten wie der Rhythmus eines einzigen Herzens. Wie wir uns von den Wellen tragen lieÃen und uns auf dem Nachhauseweg vom Strand drei Kugeln Eis kauften und darüber diskutierten, ob Vanille oder Schokolade besser schmeckte.
Ãber zehn Jahre lang beste Freundinnen und schlieÃlich endet alles mit der Klinge eines Skalpells, der Bewegung eines Laserstrahls durch das Gehirn und einem blitzenden Chirurgenmesser. Die ganze Geschichte, alles, was sie mir bedeutet hat, wird abgetrennt, treibt davon wie ein Ballon, dessen Leine gekappt wurde. In zwei Jahren â in zwei Monaten bereits â werden Hana und ich uns einfach nur zunicken, wenn wir uns auf der StraÃe begegnen. Verschiedene Menschen, verschiedene Welten, zwei Sterne, die ruhig ihre Bahn ziehen, Tausende Kilometer voneinander entfernt.
Die Sache mit der Geschlechtertrennung ist der falsche Ansatz. Wir sollten vor den Leuten geschützt werden, die uns unweigerlich eines Tages verlassen, vor all den Leuten, die verschwinden oder uns vergessen.
Vielleicht wird auch Hana nostalgisch, denn sie sagt plötzlich: »WeiÃt du noch, was wir alles für Pläne für diesen Sommer hatten? All die Dinge, die wir endlich machen wollten?«
Ich hake sofort ein. »Ins Schwimmbad der Spencer-Schule einbrechen â¦Â«
»⦠und in Unterwäsche schwimmen gehen«, beendet Hana den Satz.
Ich lächele. »Ãber den Zaun bei der Cherryhill Farm klettern â¦Â«
»⦠und den Ahornsirup direkt aus den Fässern naschen.«
»Den ganzen Weg von Munjoy Hill bis zum alten Flughafen laufen.«
»Mit den Fahrrädern zum Suicide Point fahren.«
»Diese Seilschaukel ausfindig machen, von der Sarah Miller uns erzählt hat. Die über dem Fore River.«
»Uns ins Kino schmuggeln und vier Filme hintereinander gucken.«
»Den Koboldbecher bei Maeâs ganz essen.« Jetzt lächele ich richtig und Hana auch. Ich fange an zu zitieren: »âºEin riesiger Eisbecher für Leute mit Riesenappetit, mit dreizehn Kugeln, Sahne, KaramellsoÃe â¦â¹Â«
Hana führt fort: »âºâ¦ und allen Toppings, die Ihre kleinen Monster bewältigen können!â¹Â«
Wir lachen beide. Dieses Schild haben wir wahrscheinlich schon tausendmal gelesen. Seit der vierten Klasse reden wir von unserem zweiten Angriff auf den Koboldbecher. Damals haben wirâs zum ersten Mal versucht. Hana wollte unbedingt an ihrem Geburtstag hin und nahm mich mit. Wir rollten beide den Rest des Abends auf dem Boden in ihrem Badezimmer herum, und dabei hatten wir nur sieben der dreizehn Kugeln geschafft.
Wir sind an meiner StraÃe angelangt. Ein paar Kinder spielen mitten auf der Fahrbahn. Es ist ein improvisiertes FuÃballspiel: Sie kicken eine Dose herum und schreien, ihre Körper braun und schweiÃglänzend. Ich erblicke Jenny unter ihnen. Ein Mädchen versucht sie mit dem Ellbogen zur Seite zu stoÃen und Jenny dreht sich um und schubst sie auf die Erde. Das kleinere Mädchen fängt an zu weinen. Niemand kommt aus einem der Häuser, selbst als die Stimme des Mädchens zu einem durchdringenden Schreien anschwillt wie eine Sirene. Ein Vorhang oder ein Geschirrtuch flattert in einem der Fenster. Abgesehen davon ist die StraÃe still, bewegungslos.
Ich will unbedingt auf dieser Welle des guten Gefühls weiterreiten, die Dinge zwischen Hana und mir in Ordnung bringen, selbst wenn es nur für einen Monat ist. »Hör mal, Hana â¦Â« Mir ist, als müsste ich die Wörter an einem riesigen Klumpen in meinem Hals vorbeiquetschen; ich bin beinahe so nervös wie vor der Evaluierung. »Heute Abend läuft Der defektive Detektiv im Park. Doppelfolge mit Michael Wynn. Wir könnten hingehen, wenn du Lust
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