Delirium
Hass auf Hana, in erster Linie dafür, dass sie so dumm und unbekümmert und dickköpfig ist, und dafür, dass sie mich zurückgelassen hat, bevor ich dazu bereit war; und unter all diesen Schichten ist da noch etwas, irgendeine glühend heiÃe Klinge aus Unglück, die in meinem Innersten aufblitzt. Ich kann es nicht benennen, sehe es gar nicht mal deutlich vor mir, aber irgendwie ist mir klar, dass das â diese andere Sache â mich am allerwütendsten macht.
»Danke für die Einladung«, sage ich, ohne mir die Mühe zu machen, die Ironie zu unterdrücken. »Klingt echt super. Kommen auch Jungs?«
Entweder bemerkt Hana meinen Tonfall nicht â was ich bezweifle â oder sie ignoriert ihn. »Das ist doch der Sinn der Sache«, sagt sie trocken. »Na ja, und die Musik.«
»Musik?«, frage ich. Ich kann mein Interesse nicht verbergen. »Wie letztes Mal?«
Hanas Gesicht leuchtet auf. »Ja. Ich meine, nein. Eine andere Band. Aber diese Typen sollen genial sein â sogar noch besser als die vom letzten Mal.« Sie schweigt, dann wiederholt sie leise: »Du könntest mit uns kommen.«
Trotz allem gibt mir das zu denken. In den Tagen nach der Party auf der Roaring Brook Farm schienen mir Musikfetzen überallhin zu folgen. Ich hörte sie durch den Wind fliegen, ich hörte sie vom Meer her singen und durch die Wände des Hauses klagen. Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf, schweiÃüberströmt und mit hämmerndem Herzen, und die Noten klangen mir in den Ohren. Aber wenn ich wach war und versuchte, mich bewusst an die Melodien zu erinnern, ein paar Töne zu summen oder mir einen der Akkorde ins Gedächtnis zu rufen, gelang es mir nicht.
Hana starrt mich hoffnungsvoll an und wartet auf Antwort. Einen Moment tut sie mir leid. Ich möchte sie glücklich machen wie immer, möchte sehen, wie sie jubelt, die Faust hochreckt und mir ihr berühmtes Lächeln schenkt. Aber dann fällt mir ein, dass sie jetzt Angelica Marston hat, woraufhin sich etwas in meiner Kehle verhärtet. Sie zu enttäuschen erfüllt mich mit einer Art matter Befriedigung.
»Ich glaube nicht«, sage ich. »Aber trotzdem danke.«
Hana zuckt mit den Schultern und ich merke, dass sie sich Mühe gibt, so zu tun, als sei es nicht wichtig. »Falls du es dir noch anders überlegst â¦Â« Sie versucht ein Lächeln, kann es aber nicht länger als eine Sekunde halten. »Tanglewild Lane. Deering Highlands. Du weiÃt schon, wo.«
Deering Highlands. Natürlich. Das ist ein verlassenes Wohngebiet gegenüber der Halbinsel. Vor einem Jahrzehnt entdeckte die Regierung dort Sympathisanten â und Gerüchten zufolge sogar einige Invaliden â, die in einer der groÃen Villen zusammenlebten. Es war ein riesiger Skandal. Die Razzia war das Ergebnis einer jahrelangen verdeckten Operation, und am Ende wurden zweiundvierzig Leute hingerichtet und noch mal hundert in die Grüfte geworfen. Seitdem ist Deering Highlands eine Geisterstadt: gemieden, vergessen, verdammt.
»Ja, okay. Du weiÃt auch, wo â¦Â« Ich mache eine halbherzige Handbewegung die StraÃe entlang.
»Ja.« Hana sieht auf ihre FüÃe hinab, tritt von einem auf den anderen. Es gibt nichts mehr zu sagen, aber ich kann mich nicht einfach umdrehen und weggehen. Ich habe das schreckliche Gefühl, dass dies das letzte Mal ist, dass ich Hana sehe, bevor wir geheilt werden. Plötzlich bekomme ich Angst und ich wünschte, ich könnte das Gespräch zurückdrehen und all die sarkastischen oder gemeinen Sachen, die ich gesagt habe, zurücknehmen, ihr sagen, dass ich sie vermisse und wieder ihre beste Freundin sein möchte.
Aber gerade als ich damit herausplatzen will, winkt sie mir kurz zu und sagt: »Also, dann. Wir sehen uns.« Der Augenblick fällt in sich zusammen und mit ihm meine Gelegenheit zu sprechen.
»Okay. Bis dann.«
Hana geht die StraÃe entlang. Ich bin versucht ihr nachzusehen. Ich möchte mir ihren Gang einprägen â sie irgendwie in mein Gehirn einbrennen, so wie sie ist â, aber als ich sehe, wie sie zwischen dem grellen Sonnenlicht und dem Schatten hin und her schwankt, überlagert sich ihre Silhouette in meinem Kopf mit einer anderen, einem Schatten, der sich zwischen Dunkelheit und Licht entlangschlängelt, der gleich von der Klippe treten wird, und ich weià nicht mehr, wen ich
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