Delirium
er.
Eine Flüssigkeit spritzt auf meine Haut und von dem scharfen Geruch nach Alkohol blähen sich meine Nasenflügel. Flammen züngeln mein Bein entlang und ich schreie beinahe auf. Alex streckt eine Hand aus, und ohne nachzudenken, greife ich danach und drücke sie.
»Was ist das?«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Isopropanol«, sagt er. »Zur Desinfektion.«
»Woher wusstest du, dass das hier war?«, frage ich, aber er antwortet nicht.
Er löst seine Hand aus meiner und mir wird bewusst, dass ich mich richtig fest an ihn geklammert habe. Aber um verlegen oder ängstlich zu sein, fehlt mir die Energie: Der Raum scheint zu pulsieren, das Halbdunkel wird immer verschwommener.
»Mist«, murmelt Alex. »Du blutest ganz schön.«
»Es tut nicht so doll weh«, flüstere ich, was gelogen ist. Aber er ist so ruhig, so gefasst, weshalb ich auch tapfer sein will.
Die Geräusche drauÃen, das Rennen und Rufen, verziehen sich und klingen seltsam, als würden sie durch Wasser gefiltert zu uns dringen. Auch Alex sieht aus, als wäre er meilenweit entfernt. Ich glaube fast, dass ich träume oder gleich ohnmächtig werde.
Und dann beschlieÃe ich, dass ich auf jeden Fall träume, denn ich sehe, wie Alex sich sein T-Shirt über den Kopf zieht.
Was tust du da?, will ich schreien. Alex schüttelt das T-Shirt aus und beginnt den Stoff in lange Streifen zu reiÃen, wobei er nervös zur Tür blickt und jedes Mal kurz innehält und lauscht, wenn das Gewebe Ssst macht.
Ich habe noch nie einen Jungen ohne Hemd gesehen, abgesehen von kleinen Kindern oder aus der Entfernung am Strand, wo ich mich nicht getraut habe, hinzugucken, weil ich keine Schwierigkeiten bekommen wollte.
Jetzt kann ich nicht aufhören zu starren. Das Mondlicht berührt gerade so seine Schulterblätter, sie glänzen etwas, wie Flügelspitzen, wie auf den Bildern von Engeln, die ich in Schulbüchern gesehen habe. Er ist dünn, aber auch muskulös. Wenn er sich bewegt, kann ich die Linien auf seinen Armen und seiner Brust erkennen, die so eigenartig, unglaublich und auf wunderschöne Art anders sind als die eines Mädchens, ein Körper, bei dem ich ans Rennen und DrauÃensein denken muss, an Wärme und Schwitzen. Hitze pulsiert durch meinen Körper, ein flatterndes Gefühl, als wären tausend winzige Vögel in meiner Brust losgelassen worden. Vielleicht liegt es am Blutverlust, aber der Raum scheint sich so schnell zu drehen, dass wir beide Gefahr laufen, hinaus- und in die Nacht geschleudert zu werden. Vorher schien Alex weit entfernt. Jetzt ist der Raum von ihm angefüllt. Er ist mir so nah, dass ich weder atmen noch mich bewegen, sprechen oder denken kann. Jedes Mal, wenn er mich mit den Fingern berührt, scheint die Zeit einen Augenblick zu schwanken, als würde sie sich gleich auflösen. Die ganze Welt löst sich auf, denke ich, auÃer uns. Uns.
»Hey.« Er streckt die Hand aus und fasst mich an der Schulter an, nur einen Moment, aber in diesem Moment schrumpft mein Körper zu diesem einzelnen Punkt unter seiner Hand zusammen und glüht vor Wärme. Ich habe mich noch nie so gefühlt, so ruhig und friedlich. Vielleicht liege ich im Sterben. Die Vorstellung regt mich aus irgendeinem Grund gar nicht groà auf. Eigentlich kommt es mir sogar irgendwie lustig vor. »Alles in Ordnung?«
»Prima.« Ich fange an, leise zu kichern. »Du bist nackt.«
»Was?« Sogar in der Dunkelheit erkenne ich, dass er fragend die Augen zusammenkneift.
»Ich habe noch nie einen Jungen so ⦠so gesehen. Ohne T-Shirt. Nicht aus der Nähe.«
Er fängt an, das zerrissene T-Shirt vorsichtig um mein Bein zu wickeln und es zu verknoten. »Der Hund hat dich ganz schön erwischt«, sagt er. »Aber das müsste die Blutung stoppen.«
Der Ausdruck die Blutung stoppen klingt so medizinisch und bedrohlich, dass ich wieder etwas zu mir komme und mich konzentriere. Alex ist fertig mit dem provisorischen Verband. Der sengende Schmerz in meiner Wade ist von einem dumpfen, hämmernden Druck ersetzt worden.
Alex hebt mein Bein vorsichtig aus seinem SchoÃ. »Okay?«, fragt er und ich nicke. Dann rutscht er zu mir rüber und lehnt sich neben mir an die Wand, so dass unsere Arme sich nur an den Ellbogen berühren. Ich kann die Hitze spüren, die seine nackte Haut ausstrahlt, und davon
Weitere Kostenlose Bücher