Delirium
wird mir heiÃ. Ich schlieÃe die Augen und versuche nicht darüber nachzudenken, wie nah wir uns sind oder wie es sich anfühlen würde, mit den Händen über seine Schultern und seine Brust zu streichen.
Die Geräusche der Razzia drauÃen entfernen sich immer weiter, die Schreie werden weniger, die Stimmen klingen gedämpfter. Sie ziehen offenbar weiter. Ich bete im Stillen, dass Hana entkommen konnte; die Möglichkeit, dass sie es nicht geschafft hat, ist zu schrecklich, um darüber nachzudenken.
Alex und ich rühren uns immer noch nicht. Ich bin so müde, ich möchte ewig schlafen. Mein Zuhause scheint unfassbar weit weg zu sein und ich habe keine Ahnung, wie ich je dahin zurückkommen soll.
Plötzlich fängt Alex an zu sprechen, seine Stimme leise und drängend. »Hör zu, Lena. Wegen neulich am Strand â es tut mir leid. Ich hätte es dir früher sagen müssen, aber ich wollte dich nicht verschrecken.«
»Du bist mir keine Erklärung schuldig«, sage ich.
»Aber ich möchte es dir erklären. Du sollst wissen, dass ich nicht â¦Â«
»Pass auf«, unterbreche ich ihn. »Ich werdâs keinem erzählen, okay? Ich werde dich nicht in Schwierigkeiten bringen oder so.«
Er schweigt. Ich merke, wie er den Kopf wendet, um mich anzusehen, aber ich starre geradeaus in die Dunkelheit.
»Das ist mir egal«, sagt er leiser. Wieder Schweigen, und dann: »Ich will nur nicht, dass du mich hasst.«
Der Raum schrumpft erneut, die Wände rücken näher. Ich kann seinen Blick auf mir spüren wie den heiÃen Druck einer Berührung, aber ich habe Angst, ihn anzusehen. Ich habe Angst, dass ich mich dann in seinen Augen verlieren werde und all die Dinge vergesse, die ich sagen müsste. Im Wald drauÃen ist es ganz still geworden. Kurz darauf fangen alle Grillen auf einmal laut zu zirpen an, ein heiseres Trillern.
»Warum ist dir das so wichtig?«, frage ich, kaum ein Flüstern.
»Das habe ich dir doch gesagt«, flüstert er zurück. Sein Atem kitzelt mich an der Stelle genau hinter dem Ohr und lässt mir die Nackenhaare zu Berge stehen. »Ich mag dich.«
»Du kennst mich doch gar nicht«, sage ich schnell.
»Ich würde dich aber gerne kennenlernen.«
Der Raum dreht sich wieder. Ich presse mich noch fester gegen die Wand im Versuch, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Es ist unmöglich: Er hat auf alles eine Antwort. Das geht zu schnell. Das muss ein Trick sein. Ich presse meine Handflächen auf den feuchten Boden, das feste, raue Holz spendet mir Trost.
»Warum mich?« Das will ich gar nicht fragen, aber die Worte schlüpfen hinaus. »Ich bin nichts â¦Â« Ich will sagen: Ich bin nichts Besonderes, aber mein Mund ist zu trocken. So muss es sein, wenn man einen Berg besteigt, wo die Luft so dünn ist, dass man einatmen kann, sooft man will, und immer noch nicht genügend Luft bekommt.
Alex antwortet nicht und mir wird bewusst, dass er diesmal keine Antwort hat, genau wie ich vermutet habe â denn es gibt keine. Er hat mich zufällig ausgewählt, zum SpaÃ, oder weil er glaubte, ich bin zu ängstlich, um ihn zu verraten.
Aber dann beginnt er zu sprechen. Er erzählt so schnell und flüssig, dass man merkt, er hat viel darüber nachgedacht, die Art Geschichte, die man sich immer wieder selbst vorsagt, bis die Kanten alle ganz glatt geschliffen sind. »Ich bin in der Wildnis geboren. Meine Mutter starb direkt nach meiner Geburt. Mein Vater ist auch tot. Er hat nie erfahren, dass er einen Sohn hatte. Ich habe den ersten Teil meines Lebens dort verbracht, bin einfach irgendwie herumgesprungen. All die anderen« â er zögert leicht und ich kann an seiner Stimme hören, dass er das Gesicht verzieht â » Invaliden haben sich gemeinsam um mich gekümmert. Das war eben so.«
DrauÃen halten die Grillen vorübergehend in ihrem Konzert inne. Einen Augenblick ist es, als wäre nichts Schlimmes passiert, als wäre heute Nacht gar nichts Ungewöhnliches passiert â einfach bloà eine heiÃe, träge Sommernacht, die darauf wartet, dass der Morgen sie beiseiteschiebt. In diesem Moment durchfährt mich ein stechender Schmerz, aber das hat nichts mit meinem Bein zu tun. Mir wird klar, wie klein alles ist, unsere ganze Welt, alles, was wir für wichtig halten â unsere Geschäfte, unsere Razzien, unsere Berufe,
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