Delirium
gesehen, der im Zirkus von Portland während des Trainings aus Versehen von seinem Dompteur gestochen wurde. Ich war noch ziemlich klein, aber ich werde die Bilder nie vergessen. Der Bär raste als riesiger dunkler Fleck, ein albernes rotes Papierhütchen immer noch schief auf seinem Kopf, im Kreis herum und ging auf alles los, was er zwischen die Kiefer bekam: Luftschlangen, Klappstühle, Luftballons. Auf seinen Dompteur auch. Der Bär fiel über ihn her und machte Hackfleisch aus seinem Gesicht.
Das Schlimmste war sein panisches Gebrüll: ein andauerndes schreckliches, wütendes Bellen, das irgendwie menschlich klang.
Das fällt mir ein, als die Polizei und die Aufseher ins Haus fluten, durch die zertrümmerte Tür strömen, gegen die Fenster hämmern. Daran muss ich denken, als die Musik plötzlich abbricht und die Luft stattdessen von Rufen und Schreien und zerbrechendem Glas angefüllt ist, als mich heiÃe Hände von vorne und von der Seite schubsen und ich einen Ellbogen unters Kinn und einen anderen in die Rippen bekomme. Mir fällt der Bär ein.
Irgendwie trägt mich die von Panik erfasste Menge, die sich auf den hinteren Teil des Hauses zuschiebt und -kämpft, mit sich. Ich höre Hunde, die mit den Kiefern schnappen, und Aufseher, die schwere Schläger schwingen. Leute schreien â so viele Stimmen, dass es sich anhört wie eine einzige. Ein Mädchen hinter mir stürzt, stolpert und greift nach mir, als der Knüppel eines Aufsehers sie mit einem übelkeiterregenden Knacken am Hinterkopf trifft. Ich spüre, wie ihre Finger sich kurz in den Baumwollstoff meines T-Shirts krallen, dann schüttele ich sie ab und renne, schiebe, quetsche mich weiter voran. Ich habe keine Zeit für Mitgefühl und keine Zeit für Angst. Ich habe keine Zeit für etwas anderes als Bewegung, Schieben, Weitergehen , kann nichts anderes denken als weg, weg, weg .
Das Komische ist, dass ich einen Moment lang mitten in dem ganzen Lärm und der Verwirrung die Dinge ganz deutlich wahrnehme, in Zeitlupe, als sähe ich einen Film: Ich sehe, wie ein Hund sich auf einen Typen links von mir stürzt; ich sehe, wie seine Knie nachgeben, als er mit einem winzigen, kaum wahrnehmbaren Geräusch wie ein Atemhauch oder ein Seufzen vornüberfällt, während dort, wo sich die Zähne des Hundes in seinen Hals bohren, ein Halbmond aus Blut hochspritzt. Ein Mädchen mit aufblitzenden blonden Haaren geht unter den Schlägen der Aufseher zu Boden und als ich ihre blonden Haare sehe, setzt mein Herz einen Augenblick aus und ich denke, ich bin gestorben; ich denke, jetzt ist alles vorbei. Dann dreht sie schreiend den Kopf in meine Richtung, als die Aufseher mit Pfefferspray auf sie losgehen, und ich erkenne, dass es nicht Hana ist. Erleichterung durchströmt mich wie eine Welle.
Noch mehr Momentaufnahmen. Ein Film â nur ein Film. Das geschieht nicht wirklich, so was kann gar nicht wirklich geschehen. Ein Junge und ein Mädchen, die verzweifelt versuchen, in eins der Nebenzimmer zu gelangen, vielleicht weil sie glauben, dort gebe es einen Ausgang. Die Tür ist zu schmal, sie passen nicht beide gleichzeitig hindurch. Er trägt ein blaues T-Shirt, auf dem MARINE - AKADEMIE PORTLAND steht, und sie hat leuchtend rote Haare wie Flammen. Noch vor fünf Minuten haben sie sich unterhalten und miteinander gelacht, standen so dicht beieinander, dass sie sich, wenn einer von ihnen aus Versehen nach vorne gekippt wäre, vielleicht geküsst hätten. Jetzt kämpfen sie miteinander. Sie ist kleiner, aber sie haut ihre Zähne in seinen Arm wie ein Hund, wie ein wildes Tier. Er brüllt, wütet, packt sie an den Schultern und schleudert sie gegen die Wand, aus dem Weg. Sie stolpert, fällt, rutscht aus, versucht aufzustehen. Einer der Aufseher, ein riesiger Kerl mit dem rötesten Gesicht, das ich je gesehen habe, bückt sich, krallt seine Finger um ihren Pferdeschwanz und zerrt sie auf die FüÃe. Der Junge von der Marine-Akademie kommt auch nicht davon. Zwei Aufseher folgen ihm und im Vorbeirennen höre ich die Schläge ihrer Knüppel, die unterdrückten Schreie.
Tiere, denke ich. Wir sind Tiere.
Die Leute schubsen einander, zerren, benutzen sich gegenseitig als Schutzschilde, als die Polizei immer näher kommt, vorwärtswogt, nach uns ausholt, die Hunde auf uns hetzt. Die Schläger schwingen so nah an meinem Kopf vorbei, dass ich
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