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Delirium

Delirium

Titel: Delirium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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unser ganzes Leben. Und die Welt dreht sich immer weiter, die Nacht wird zum Tag und wieder zur Nacht, ein endloser Kreislauf; die Jahreszeiten wechseln und verändern sich wie ein Monster, das sein Fell abwirft, bevor ihm ein neues wächst.
    Alex spricht weiter: »Als ich zehn war, kam ich nach Portland, um mich hier der Widerstandsbewegung anzuschließen. Ich werde dir nicht erklären, wie das genau läuft. Es war kompliziert. Ich bekam einen Identitäts-Code. Ich bekam einen neuen Nachnamen, eine neue Adresse. Es gibt mehr von uns, als du denkst – Invaliden und auch Sympathisanten –, mehr von uns, als irgendjemand weiß. Wir haben Leute bei der Polizei und in allen Abteilungen der Stadtverwaltung. Wir haben sogar Leute in den Labors.«
    Als er das sagt, bekomme ich Gänsehaut auf den Armen.
    Â»Worauf ich hinauswill, ist, dass es möglich ist, rein- und rauszukommen. Schwierig, aber möglich. Ich zog bei zwei Fremden ein – beides Sympathisanten – und man sagte mir, ich solle mich als ihren Neffen ausgeben.« Er zuckt kaum wahrnehmbar die Schultern. »Es war mir egal. Meine richtigen Eltern habe ich nie gekannt und ich bin von einem Dutzend verschiedenerTanten und Onkel aufgezogen worden. Es spielte keine Rolle.«
    Seine Stimme ist ganz leise geworden und er scheint beinahe vergessen zu haben, dass ich hier bin. Ich weiß nicht genau, wo seine Geschichte hinführt, aber ich halte die Luft an, weil ich befürchte, dass er vielleicht aufhört zu reden, wenn ich nur ausatme.
    Â»Ich fand es hier furchtbar. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie furchtbar ich es hier fand. All die Gebäude und die Leute, die so betäubt aussehen, und die Gerüche und dass alles so eng ist und die Regeln – Regeln, wohin man sich auch wendet, Regeln und Mauern, Regeln und Mauern. Ich war das nicht gewohnt. Ich fühlte mich wie in einem Käfig. Es ist ja auch einer: ein Käfig aus Grenzen.«
    Ein Schreck durchfährt mich. In all den siebzehn Jahren und elf Monaten meines Lebens habe ich das nie, nicht ein einziges Mal, so gesehen. Ich habe so viel daran gedacht, was die Grenzen aus sperren, dass ich nie darauf gekommen bin, dass sie uns gleichzeitig ein sperren. Jetzt sehe ich es mit Alex’ Augen, sehe, was das für ihn bedeutet hat.
    Â»Erst war ich wütend. Ich habe alles Mögliche angezündet. Papier, Lehrbücher, Schulhefte. Irgendwie ging es mir davon besser.« Er lacht leise. »Ich habe sogar mein Exemplar des Buchs Psst verbrannt.«
    Ein weiterer Schreck: Das Buch Psst zu verunstalten oder zu zerstören ist ein Verbrechen.
    Â»Ich bin jeden Tag stundenlang an den Grenzen entlanggelaufen. Manchmal habe ich geweint.« Er erschaudert leicht und ich merke, dass er verlegen ist. Das ist nach einer ganzen Weile das erste Anzeichen dafür, dass er weiß, dass ich noch da bin, dass er mit mir redet, und der Drang, den Arm auszustrecken und seine Hand zu nehmen, ihn zu drücken oder ihn irgendwie zu bestärken, ist geradezu überwältigend. Aber meine Hände kleben weiterhin fest am Boden. »Nach einer Weile ging ich einfach nur vor mich hin. Ich beobachtete gerne die Vögel. Sie flogen auf unserer Seite auf und segelten hinüber in die Wildnis, ganz problemlos. Hin und her, hin und her, flitzten herum und drehten sich in der Luft. Ich konnte ihnen stundenlang zusehen. Sie waren vollkommen frei. Ich hatte gedacht, dass nichts und niemand in Portland frei wäre, aber ich hatte mich geirrt. Da waren immer noch die Vögel.«
    Er schweigt eine Weile und ich denke, vielleicht ist seine Geschichte zu Ende. Ich frage mich, ob er wohl meine ursprüngliche Frage vergessen hat – warum mich? –, aber es ist mir unangenehm, ihn daran zu erinnern, also sitze ich einfach nur da und stelle mir vor, wie er bewegungslos an der Grenze steht und den Vögeln zusieht, die über ihn hinwegfliegen. Es beruhigt mich.
    Nach einer gefühlten Ewigkeit spricht er weiter, diesmal mit so leiser Stimme, dass ich näher an ihn heranrücken muss, um ihn überhaupt zu verstehen. »Als ich dich das erste Mal sah, beim Gouverneur, war ich schon jahrelang nicht mehr an der Grenze gewesen, um die Vögel zu beobachten. Aber du hast mich an all das erinnert. Du bist hochgesprungen und hast irgendwas gerufen, und deine Haare lösten sich aus deinem Pferdeschwanz, und du warst so schnell …« Er schüttelt den

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