Delirium
den Luftzug im Nacken spüre. Ich denke an brennenden Schmerz, ich denke an Rot. Um mich herum dünnt die Menge immer mehr aus und die Aufseher kommen immer weiter voran. Einer nach dem anderen schreien die Leute neben mir auf und stürzen, werden von drei, vier, fünf Hunden zu Boden gerissen. Schreie, Schreie. Alle schreien.
Irgendwie werde ich nicht erwischt und ich rase durch die engen, knarrenden Flure, komme an verschwommenen Zimmern, an verschwommenen Leuten und Polizisten vorbei, mehr Licht, mehr zerbrochene Fenster, Motorengeräusch. Das Haus ist umzingelt. Und dann taucht die offene Hintertür vor mir auf â und jenseits davon dunkle Bäume, der kühle und wispernde Wald hinter dem Haus. Wenn ich es nach drauÃen schaffe ⦠wenn es mir gelingt, mich lange genug vor den Lichtern zu verstecken â¦
Ein Hund bellt hinter mir und die dröhnenden Schritte eines Aufsehers kommen näher und näher, eine barsche Stimme ruft: »Halt!«, und mir wird plötzlich bewusst, dass ich allein im Flur bin. Noch fünfzehn Schritte ⦠dann noch zehn. Wenn ich es in die Dunkelheit schaffe â¦
Noch anderthalb Meter bis zur Tür und ein plötzlicher, stechender Schmerz schieÃt durch mein Bein. Der Hund hat seine Kiefer um meine Wade geschlossen. Ich drehe mich um und da sehe ich ihn, den Aufseher mit dem breiten roten Gesicht, glitzernde Augen, lächelnd â o Gott, er lächelt, das hier macht ihm echt Spaà â, den Knüppel erhoben, bereit zuzuschlagen. Ich schlieÃe die Augen, denke an Schmerzen, so weit wie der Ozean, denke an ein blutrotes Meer. Denke an meine Mutter.
Dann werde ich zur Seite gerissen und höre ein Knacken und ein Jaulen und der Aufseher sagt: »ScheiÃe.« Das Feuer in meinem Bein lässt etwas nach, das Gewicht des Hundes fällt ab und dann ist da ein Arm um meine Taille und eine Stimme an meinem Ohr â eine Stimme, die in diesem Moment so vertraut klingt, als hätte ich sie die ganze Zeit erwartet, als hätte ich sie schon immer in meinen Träumen gehört â, die haucht: »Hier lang.«
Alex hat weiterhin einen Arm um meine Taille geschlungen, trägt mich halb. Wir sind jetzt in einem anderen Flur, dieser hier ist kürzer und völlig leer. Jedes Mal, wenn ich mein rechtes Bein belaste, flammt der Schmerz wieder auf und brennt sich den ganzen Weg hinauf in meinen Kopf. Der Aufseher ist immer noch hinter uns und stinksauer â Alex hat mich genau im richtigen Moment zur Seite gezogen, so dass sein Knüppel auf seinen Hund anstatt auf meinen Schädel hinabgesaust ist â und ich weiÃ, dass ich Alex aufhalte, aber er lässt mich nicht los, nicht einen Augenblick.
»Hier rein«, sagt er und dann huschen wir in ein Zimmer. Wir müssen jetzt in einem Teil des Hauses sein, der nicht für die Party genutzt wurde. Hier ist es pechschwarz, trotzdem wird Alex nicht langsamer, geht einfach im Dunkeln weiter. Ich lasse mich vom Druck seiner Fingerspitzen leiten â links, rechts, links, rechts. Es riecht nach Moder und noch etwas anderem â fast so wie frische Farbe und dabei rauchig, als hätte hier jemand gekocht. Aber das ist unmöglich. Diese Häuser stehen seit Jahren leer.
Hinter uns kämpft sich der Aufseher in der Dunkelheit vorwärts. Er stöÃt gegen ein Hindernis und flucht. Einen Augenblick später kracht etwas auf den Boden; Glas zersplittert; weitere Flüche. Es hört sich an, als würde er zurückfallen.
»Rauf hier«, flüstert Alex so leise und so nah, dass es ist, als bildete ich es mir nur ein. Er hebt mich einfach hoch und ich merke, wie ich aus einem Fenster klettere, spüre das raue Holz des Rahmens über meinen Rücken kratzen und lande im weichen, feuchten Gras drauÃen auf meinem heilen FuÃ.
Einen Moment später taucht Alex hinter mir in der Dunkelheit auf. Die Luft ist heiÃ, aber eine Brise ist aufgekommen, und als sie über meine Haut streicht, könnte ich vor Dankbarkeit und Erleichterung weinen.
Aber wir sind noch nicht in Sicherheit â weit davon entfernt. Die Dunkelheit bewegt und windet sich, wimmelt von Bahnen aus Licht. Taschenlampen scheinen rechts und links von uns durch den Wald, und in ihrem Strahl kann ich fliehende Gestalten erkennen, die wie Geister angestrahlt werden, einen Augenblick im Lichtschein erstarrt. Die Schreie dauern an, einige nur einen Meter entfernt, andere so weit
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