Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Gemüthsruhe seine Schießübungen, und der Engländer bohrte energisch an der Mauer herum. Es galt dabei, das Zerstören der Mauer nicht oben, wo es sehr leicht geworden wäre, zu beginnen; denn das hätte uns verrathen können. Wir mußten von innen und unten arbeiten, damit man unsere Absicht erst dann bemerken könnte, wenn einige kräftige Stöße genügten, das Werk zu vollenden.
Endlich hatten wir den ersten, großen Stein heraus, und nun folgten die andern Steine bald nach. Als wir fast zu Ende waren, wurden die beiden Haddedihn gerufen. Ein Jeder stellte sich an sein Pferd. Master Lindsay ergriff den Hebebaum zum letzten Stoße.
»Jetzt alles umrennen! Yes!«
Er nahm einen Anlauf, stürzte vorwärts und prallte mit solcher Wucht an die Mauer, daß er niederstürzte; aber die letzten Steine prasselten auch zu Boden. Nun wurde in dem Schutt noch ein wenig Bahn gebrochen, dann stiegen wir auf die Pferde. Ein tüchtiger Satz brachte uns über das Geröll hinweg und durch die Bresche hinaus in’s Freie. Die Noth war zu Ende, noch ehe sie begonnen hatte, und wir verließen eine Herberge, ohne die Rechnung berichtigen zu müssen.
»Wohin jetzt?« frug Lindsay.
»Im langsamen Trab um die Ecke des Hauses herum und dann im Schritt durch das Dorf. Reitet Ihr voran!«
Er that es. Ihm folgten die drei Araber, und ich machte den Schluß. Wir kamen zwischen unserer verlassenen Wohnung und den beiden Häusern, aus denen man auf uns geschossen hatte, hindurch, und meine Voraussetzung traf wirklich ein: – es fiel kein einziger Schuß auf uns. Aber wir waren noch gar nicht weit gekommen, so erhoben sich hinter uns laute Rufe. Jetzt gaben wir den Pferden die Sporen und jagten zum Dorfe hinaus.
Hier sahen wir, daß die sämmtlichen Pferde des Dorfes sich auf der Weide befanden. Sie graseten in ziemlicher Entfernung von dem Dorfe, so daß wir hoffentlich einen guten Vorsprung gewannen, ehe sie von ihren Reitern bestiegen werden konnten.
Der Weg ging durch ebenes, aber wohl bewässertes Land, welches uns Gelegenheit gab, die Schnelligkeit unserer Pferde vollständig zur Entfaltung zu bringen; nur nicht in Beziehung auf meinen Rappen, der verlangend in die Zügel knirschte und doch gezügelt wurde, weil sonst die Andern weit zurückgeblieben wären.
Endlich bemerkten wir hinter uns eine breite Linie von Reitern, welche uns verfolgten.
Mohammed Emin warf jetzt einen besorgten Blick auf das Pferd, welches sein Sohn ritt, und sagte: »Wenn wir dieses Pferd nicht hätten, so würden sie uns wohl nicht erreichen.«
Er hatte Recht. Es war das beste Pferd, welches in Amadijah überhaupt zu bekommen gewesen, und dennoch hatte es einen harten Gang und eine mühsame Athmung, daß es bei einem langen Schnellritt sicherlich sehr bald zusammengebrochen wäre.
»Sihdi,« frug Halef, »Du willst keinen Kurden tödten?«
»So lange es zu vermeiden ist, nein.«
»Aber auf ihre Pferde können wir doch wohl schießen?«
»Es wird uns nichts Anderes übrig bleiben.«
Er nahm seine lange, arabische Flinte von der Schulter und sah nach dem Schlosse. Auf fünfhundert Schritt Entfernung hatte er mit diesem Gewehre sein Ziel noch nie verfehlt, und meine Büchse trug noch weiter.
Die Verfolger kamen uns immer näher. Ihr lautes Geschrei klang ganz anders, als dasjenige, welches man bei einer Phantasia, einem Dscheridwerfen, einem Scheingefechte zu hören bekommt: sie machten Ernst. Einer ritt allen Andern voran. Sie näherten sich auf vielleicht fünfhundertfünfzig Schritt; er aber jagte näher, hielt sein Roß an, zielte und schoß. Dieser Mann besaß eine gute Flinte. Wir sahen ganz in unserer Nähe von einem Steine, welchen die Kugel getroffen hatte, einige Splitter abfliegen. Es war ein noch junger Kurde, vielleicht der Bluträcher.
»Well!« meinte der Engländer, indem er seine Büchse nahm und das Pferd herumwandte; »geh herunter, Boy!«
Er legte an und drückte ab. Das Pferd des Kurden that einen Satz, taumelte und brach zusammen.
»Kann nach Hause gehen! Yes!«
Diesem kaltblütigen, sicheren Schusse folgte ein lautes Schreien der Kurden. Sie hielten an und sprachen mit einander, folgten uns aber alsbald wieder nach. In kurzer Zeit erreichten wir einen breiten Bach, über den es keine Brücke gab. Er war reißend und tief, so daß wir eine Stelle suchen mußten, an welcher der Übergang sich am besten bewerkstelligen ließ. Dies gab uns natürlich Blößen. Die Kurden hielten. Einige von ihnen aber ritten etwas vor, saßen
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