Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Hütte.«
»In dieser Hütte? Katera Aïssa – um Jesu willen, dann wärst Du’s ja!«
»Ich bin der Mann, nach dem Du fragst.«
»Herr, kannst Du dies beweisen?«
»Ja.«
»Wen trafst Du in dem Hause der Kranken, welche Gift gegessen hatte?«
»Ich traf dort Marah Durimeh.«
»Hat sie Dir einen Talisman gegeben?«
»Nein; aber sie hat mir gesagt, wenn ich hier in Noth kommen werde, so solle ich nach dem Ruh ‘i kulyan fragen.«
»Du bist’s, Du bist’s, Herr!« rief sie, indem sie die Hände zusammenschlug. »Du bist der Freund von Marah Durimeh; ich werde Dir helfen; ich werde Dich beschützen. Erzähle mir, wie Du in diese Gefangenschaft gerathen bist!«
Dies war heut bereits zum dritten Male, daß ich die wunderbare Wirkung von dem Namen Marah Durimeh’s erlebte. Welche Macht besaß dieses geheimnißvolle Weib?
»Wer ist Marah Durimeh?« frug ich.
»Sie ist eine alte Fürstin, deren Nachkommen vom Messias abgefallen und zu Muhammed übergetreten sind. Nun thut sie Buße für sie und wird ruhelos hin und her getrieben.«
»Und wer ist der Ruh ‘i kulyan?«
»Das ist ein guter Geist. Die Einen sagen, es sei der Engel Gabriel, und Andere meinen, daß es der Erzengel Michael sei, der die Gläubigen beschützt. Er hat hier gewisse Orte und gewisse Zeiten, wo und wann man zu ihm kommen kann. Aber erzähle mir vorher, wie Du gefangen wurdest!«
Die Erfüllung dieses Wunsches konnte mir nur Nutzen bringen. Ich überwand die Unannehmlichkeit meiner Körperlage und die Beschwerden, welche mir die Armfesseln verursachten, und erzählte meine Erlebnisse von Amadijah bis zu der gegenwärtigen Stunde. Die Alte hörte mir mit der größten Aufmerksamkeit zu, und als ich geendet hatte, faßte sie fast zärtlich die eine meiner zusammengeschnürten Hände.
»Herr,« rief sie, »Du hast recht vermuthet: Nedschir-Bey ist es, der Dich gefangen hält. Ich weiß nicht, weßhalb er es gethan hat, aber ich liebe ihn nicht; er ist ein gewalttätiger Mann, und ich werde Dich retten.«
»Du willst mir diese Fesseln abnehmen?«
»Herr, das darf ich nicht wagen. Nedschir-Bey wird bald kommen, und dann würde er mich sehr bestrafen.«
»Was willst Du sonst thun?«
»Emir, heut ist der Tag, an welchem man um Mitternacht hier zum Ruh ‘i kulyan geht. Der Geist wird Dich erretten.«
»Willst Du bei ihm für mich bitten?«
»Ich kann nicht zu ihm; ich bin sehr alt, und der Weg ist mir zu steil. Aber« – – – sie hielt inne und blickte nachdenklich vor sich nieder; dann blickte sie mich forschend an: – – »Herr, wirst Du mir eine Lüge sagen?«
»Ich sage Dir die Wahrheit!«
»Wirst Du fliehen, wenn Du mir versprichst, es nicht zu thun?«
»Was ich verspreche, das halte ich!«
»Deine Arme schmerzen Dich. Wirst Du hier bleiben, wenn ich sie Dir losbinde?«
»Ich verspreche es.«
»Aber darf ich sie Dir auch wieder fesseln, wenn Jemand kommt?«
»Auch das.«
»Schwöre es!«
»Die heilige Schrift gebietet: Eure Rede sei ja ja, nein nein; was darüber ist, das ist unrecht. – Ich schwöre nicht, aber ich verspreche es Dir und werde mein Wort halten.«
»Ich glaube Dir!«
Sie erhob sich halb und versuchte es, die Riemen in meinem Nacken zu lösen. Ich gestehe reumüthig, daß mir in diesem Augenblicke der Duft der guten ›Petersilie‹ nicht im Geringsten widerwärtig war. Ihr Vorhaben gelang, und ich streckte die schmerzenden Arme mit Wonne aus und gönnte der so lange eingepreßten Brust einen tiefen Athemzug. Madana aber nahm von jetzt an ihren Platz draußen vor der Hütte, wo sie jeden Nahenden bereits von Weitem sehen und hören konnte. Daß unsere Unterhaltung durch die Thüröffnung fortgesetzt werden könne, bewies mir die brave Alte auf der Stelle.
»Wenn Jemand kommt, werde ich Dich einstweilen wieder binden,« sagte sie; »und dann – dann – – dann – – – o Herr, würdest Du wiederkommen, wenn ich Dir erlaube, einmal fortzugehen?«
»Ja. Wohin aber soll ich gehen?«
»Hinüber auf den Berg, zum Ruh ‘i kulyan.«
Ich horchte erstaunt auf. Das war ja ein Abenteuer, wie mir noch selten eines geboten worden war. Ich sollte heimlich aus meiner Gefangenschaft beurlaubt werden, um den geheimnißvollen ›Geist der Höhle‹ kennen zu lernen.
»Ich gehe, und Du kannst Dich darauf verlassen, daß ich ganz sicher wieder komme!« versprach ich Madana mit Freuden. »Aber ich kenne den Weg ja nicht!«
»Ich rufe Ingdscha, welche Dich führen wird.«
Ingdscha heißt ›Perle‹.
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