Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
fragte:
»Effendi, hast Du einmal die Chora-teperler gesehen?«
»Ja, doch nicht hier in Constantinopel.«
»Dies ist ihr Manastyr, und wir haben grad jetzt die Stunde ihrer Exerzitien. Willst Du einmal mit mir eintreten?«
Ich bejahte diese Frage, und wir traten durch den weit geöffneten Thorflügel des Gitters in den mit breiten Marmorplatten gepflasterten Hofraum. Die linke Seite desselben wurde durch einen ebenfalls umgitterten Friedhof begrenzt. Zwischen dem Gitter erblickte man unter dem Schatten hoher, dunkler Cypressen eine Menge weißer Leichensteine, welche oben mit einem turbanähnlichen Aufsatze verziert waren. Die eine Seite dieser Steine enthielt den Namen des Todten und einen Spruch aus dem Kuran. Eine beträchtliche Anzahl türkischer Frauen hatte sich diesen Friedhof zur Nachmittagspromenade ausersehen, und wohin man nur blickte, da schimmerten die weißen Schleier und farbigen Mäntel durch die Bäume. Der Türke liebt es, die Orte zu besuchen, an denen seine Todten ihren ewigen ›Kef‹ halten.
Den Hintergrund des Hofes nahm ein runder Pavillon ein, welcher mit einer Kuppel bedeckt war, und die rechte Seite wurde von dem Kloster gebildet, einem einstöckigen, auch mit einem Kuppeldache versehenen Gebäude, dessen Rückseite der Straße zugekehrt war.
In der Mitte des Hofes stand eine hohe, bis zur Spitze mit Efeu umrankte Cypresse. Der Hof selbst war voll von Menschen, welche alle nach dem Pavillon drängten; Isla jedoch führte mich zunächst in das Kloster, um mir das Innere eines türkischen Derwischhauses zu zeigen.
Derwisch ist ein persisches Wort und bedeutet: ›Armer‹; das arabische Wort dafür ist ›Fakir‹. Derwisch wird jeder Angehörige eines religiösen islamitischen Ordens genannt. Dieser Orden gibt es sehr viele; doch legen deren Angehörige kein Gelübde ab; das Gelöbniß der Armuth und Keuschheit und des Gehorsams kennen sie nicht. Die Tekkije und Khangah sind oft sehr reich an Grundstücken, Kapitalien und Einkünften, wie überhaupt die ganze türkische Geistlichkeit keineswegs in Dürftigkeit lebt. Die Mönche sind meistentheils verheirathet und beschäftigen sich mit Essen, Trinken, Schlafen, Spielen, Rauchen und Nichtsthun. Früher hatten die Derwische eine nicht gewöhnliche religiöse und politische Bedeutung; jetzt aber ist ihr Ansehen gesunken, und nur von dem Pöbel wird ihnen noch eine Art Achtung gezollt. Darum sind sie auf Künste bedacht, durch welche sie sich den Anstrich von Gottbegeisterten oder Zauberern zu geben vermögen. Sie verrichten allerlei Kunst- und Taschenspielerstückchen und führen Komödien auf, in denen sie sich in eigenthümlichen Tänzen und heulenden Gesängen produziren.
Hinter der Klosterpforte traten wir in einen hohen, kühlen Querraum, welcher die ganze Breite des Gebäudes einnahm. Von hier aus lief zur linken Hand ein Gang rechtwinklig mit der Langseite des Klosters parallel. Auf dieser Galerie öffneten sich die Zellen der Derwische; die Fenster der Zellen gingen nach dem Hofe hinaus. Thüren gab es nicht, und so konnte man von dem Gange aus in jede der offenen Zellen blicken. Ihre Einrichtung war außerordentlich einfach: – sie bestand nur aus einem schmalen Kissen, welches rings an den Wänden sich hinzog. Auf diesen Divans saßen die Derwische mit ihren tutenförmigen, zuckerhutähnlichenFilzmützen auf dem Kopfe, genau so, wie sie in unseren Circusvorstellungen von den Clowns getragen werden. Einige rauchten, Andere machten Toilette zu dem bevorstehenden Tanze, und noch Andere saßen ohne Bewegung und in sich versunken da, wie Statuen.
Von hier aus begaben wir uns nach dem Pavillon, wo wir zunächst einen viereckigen Vorsaal betraten, aus welchem man in den großen, achteckigen Hauptsaal gelangte. Eine von schlanken Säulen getragene Kuppelwölbung bildete das Dach desselben, und die Rückseite des Raumes nahm eine Reihe großer, offen stehender Fenster ein. Der Boden war spiegelglatt parkettirt. Zwei Reihen von Logen – die eine zur ebenen Erde und die andere in halber Saalhöhe – liefen um alle acht Wände des Saales; einige der oberen Logen waren mit vergoldeten Stäben vergittert und für die weiblichen Zuschauer bestimmt. Eine andere, auch in der oberen Reihe befindliche Loge bildete den Aufenthalt des Musikchores. Diese Logen waren alle besetzt, und auch wir nahmen in einer der unteren Platz.
Die Komödie, welche als gottesdienstliche Handlung gelten sollte, nahm ihren Anfang.
Es zogen durch die
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