Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
nichts, wenn er einmal ein wenig hungert!«
»So willst Du mich also bestehlen?«
»Nein. Siehe mich an! Ihr habt mir während meiner Gegenwehr die Kleider zerrissen; ich muß mir andere kaufen. Du bist Schuld daran, und so kann ich, ohne einen Diebstahl zu begehen, mich Deines Geldes bemächtigen. Aber ich werde es dennoch nicht thun, sondern es dem Kadi übergeben. Darf denn ein Tanzender Geld besitzen? Ich denke, daß Alles, was er einnimmt, dem Orden gehört!«
»Ich bin kein Tanzender mehr. Ich war nur für kurze Zeit im Kloster!«
»Jedenfalls aus Geschäftsrücksichten! Nun, das geht mich nichts an. Wir wollen aufbrechen. Gib Deine Hände her!«
Ich zog bei diesen Worten eine Leine hervor, welche ich vorhin in der Satteltasche bemerkt hatte.
»Effendi, was willst Du thun?« fragte er erschrocken.
»Ich werde Dich mit den Händen an den Steigbügel binden.«
»Das darfst Du nicht! Du bist ein Christ, und ich bin ein Anhänger des Propheten. Du bist kein Khawasse. Du hast kein Recht, einen Andern als Gefangenen zu behandeln!«
»Weigere Dich nicht, Ali Manach! Hier ist der Strick. Gibst Du nicht augenblicklich die Hände her, so schlage ich Dich an den Kopf, daß Du wieder ohnmächtig wirst. Ich erlaube Dir keineswegs, mir vorzuschreiben, wie ich Dich zu behandeln habe!«
Das wirkte. Dieser Pseudoderwisch schien überhaupt ganz ohne Muth und Energie zu sein. Er hielt mir die beiden Hände hin, welche ich ihm zusammenband. Dann befestigte ich ihn an den Steigbügel und stieg auf’s Pferd.
»Was wirst Du mit dem Pferde thun?« fragte er.
»Ich übergebe es dem Kadi. Vorwärts!«
Wir setzten uns in Bewegung. Ich hätte nicht geglaubt, so bald wieder nach Edreneh zurückkehren zu können, und noch dazu auf diese Art und Weise.
Wir erreichten bald die Hauptstraße. Es war diejenige, welche nach dem berühmten Karawanserai Mustafa Pascha führt. Wir begegneten vielen Reisenden. Man betrachtete uns erstaunt; man wunderte sich über uns Beide; aber Niemand hielt es der Mühe werth, ein Wort zu uns zu sprechen.
Je mehr wir uns der Stadt näherten, desto belebter wurde die Straße. Gleich in einer der ersten Gassen erblickte ich zweiKhawassen. Nachdem ich ihnen eine kurze Erklärung gegeben hatte, forderte ich sie auf, mich zu begleiten, und sie thaten es. Es war meine Absicht, zunächst zu Hulam zu reiten, um vor allen Dingen die Freunde zu beruhigen. Mit Hülfe der Polizisten fand ich mich zurecht.
In einer der Straßen, durch welche wir kamen, bemerkte ich unter den vielen Passanten einen Mann, welcher, als er Ali Manach erblickte, mit allen Zeichen des Schreckens stehen blieb, dann aber mit raschen Schritten weiter eilte.
Kannte er meinen Gefangenen? Am liebsten hätte ich ihm einen der Polizisten nachgeschickt, um ihn festnehmen zu lassen. Wie nun, wenn dieser Mensch die Andern warnte! Aber auf einen bloßen Verdacht, ja auf eine reine Vermuthung hin konnte ich es doch nicht gut wagen, einen vielleicht ganz und gar Unschuldigen seiner Freiheit berauben zu lassen, wenn auch vielleicht nur auf eine einzige Stunde. Ich – ein Christ – befand mich ja in einem muhammedanischen Lande.
Bei dem Hause Hulam’s angekommen, klopfte ich an das Thor. Der Schließer blickte durch das Loch und stieß einen Ruf der Freude aus, als er mich erblickte.
»Hamdulillah! Bist Du es wirklich, Effendi?«
»Ja. Öffne, Malhem!«
»Sogleich, sogleich! Wir sind in großer Angst um Dich gewesen, denn wir dachten, daß Dir ein Unglück zugestoßen sei. Nun aber ist Alles gut!«
»Wo ist Hadschi Halef Omar?«
»Im Selamlik. Alle sind dort versammelt und trauern über Dein Verschwinden.«
»Alargha – aufgeschaut!« rief da einer der beiden Khawassen. »Bist Du denn vielleicht Kara Ben Nemsi, Effendi?«
»Ja, so heiße ich.«
»Peh ne güzel – wie schön, wie schön! So haben wir also die dreihundert Piaster verdient!«
»Welche dreihundert Piaster?«
»Wir sind ausgesendet worden, nach Dir zu suchen. Wer eine Spur von Dir findet, soll diese Summe erhalten.«
»Hm! Eigentlich habe ich Euch gefunden! Aber Ihr sollt das Geld empfangen. Kommt mit herein!«
Dreihundert Piaster sind ungefähr sechzig Mark. Also so sehr hoch hatte man mich taxirt! Ich konnte stolz darauf sein. Der Wärter hatte das Thor weit aufgerissen. Er machte ein sehr erstauntes Gesicht, als er den Derwisch erblickte, den er bisher nicht hatte sehen können. Kaum wurden im Hofe die Tritte des Pferdes hörbar, so kam man herbei geeilt.
Der Erste
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