Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
natürlich mir aneignete.
Während des Reitens untersuchte ich seine Taschen. Da fand ich denn meine Uhr und meinen Geldbeutel, und das Gewicht desselben überzeugte mich, daß sich mehr in demselben befand, als ich gestern Abend darin gehabt hatte. An der Seite des Pferdes hing ein Leinwandsack als Satteltasche. Ich langte mit der einen Hand hinein und fühlte Munition und Lebensmittel. Man hatte es also wohl auf eine längere Reise abgesehen gehabt.
Der Wald ging zu Ende, und ich sah eine offene Ebene vor mir, auf welcher es große Maisfelder und Rosengärten gab. Als ich mich nach einiger Zeit umblickte, gewahrte ich einen Reiter, welcher mir im Galopp nachgesprengt kam. Jedenfalls war es derjenige, welcher zur rechten Seite des Wagens geritten war. Man hatte also jetzt die Flucht bemerkt, und er war zurückgekehrt, um sich zu informiren.
Mein Pferd war, obgleich es Zwei zu tragen hatte, ebenso schnell wie das seinige. Ich hatte nichts zu fürchten. Und als ich nach einiger Zeit eine belebte Straße gewahrte, in welche mein Weg mündete, fühlte ich mich völlig sicher. Ich sah auch wirklich bald, daß der Mann sein Pferd zu zügeln begann, und nach kurzer Zeit war er meinen Augen entschwunden.
Jetzt hielt ich an und stieg ab, sowohl um das Pferd ausruhen zu lassen, als auch um des Derwisches willen. Ich legte ihn auf die Erde und untersuchte ihn. Das Herz schlug ganz regelrecht, und ebenso athmete er normal.
»Ali Manach, verstelle Dich nicht!« sagte ich. »Ich weiß, daß Du vollständig bei Sinnen bist. Öffne die Augen!«
Er war erst allerdings besinnungslos gewesen, hatte sich dann später aber ohnmächtig gestellt, wohl um meinen Fragen auszuweichen und sich sein Verhalten zu überlegen; vielleicht auch, um eine Gelegenheit zur Flucht zu ergreifen. Er machte trotz meiner Worte die Augen nicht auf.
»Gut!« sagte ich. »Bist Du wirklich todt, so will ich mich wenigstens davon überzeugen. Ich werde Dir also dieses Messer in das Herz stoßen!«
Ich zog das Messer. Kaum aber fühlte er die Spitze desselben auf seiner Brust, so riß er vor Entsetzen die Augen so weit wie möglich auf und rief:
»Ah waï! Halt! Willst Du mich wirklich erstechen!«
»Einen Lebenden tödtet man nicht gern. Einem Todten aber kann ein Messerstich ja nichts mehr schaden. Willst Du diese Klinge von Dir fern halten, so laß mich ja nicht wieder vermuthen, daß Du gestorben seist!«
Er hatte lang ausgestreckt am Boden gelegen; jetzt richtete er sich zum Sitzen auf. Ich sprach:
»Sage einmal, Ali Manach, wohin Du mich bringen wolltest!«
»In Sicherheit,« antwortete er.
»Das ist sehr zweideutig gesprochen. Wer sollte sicher sein? Ich vor Euch oder Ihr vor mir?«
»Beides.«
»Das mußt Du mir erklären, damit ich es begreifen kann.«
»Es sollte Dir nichts geschehen, Effendi. Wir wollten Dich nach einem Orte bringen, von wo Du nicht hättest entfliehen können. Mein Vater sollte Zeit gewinnen, um zu entkommen. Dann hätten wir Dich gegen das Lösegeld wieder frei gelassen.«
»Das ist sehr liebenswürdig von Euch. Welches ist der Ort, nach dem ich gebracht werden sollte?«
»Es ist ein Karaul in den Bergen.«
»Ah, ein Wachtthurm! Ihr habt also geglaubt, daß Dein Vater sicherer entkommen werde, wenn ich mich in Eurer Gewalt befinde?«
»Ja, Effendi.«
»Warum?«
»Weil Du vielleicht entdeckt hättest, wohin er sich gewendet hat.«
»Wie könnte ich das entdecken! Ich bin nicht allwissend.«
»Dein Hadschi hat erzählt, daß Du alle Spuren aufzufinden verstehest.«
»Hm! Wie soll ich in Edreneh die Spur Deines Vaters finden?«
»Ich weiß es nicht.«
»Nun, Ali Manach, ich will Dir sagen, daß ich diese Spur bereits habe. Dein Vater ist mit dem Gefängnißwärter und mit Manach el Barscha längs der Arda nach Westen geritten. Sie hatten zwei Schimmel und ein dunkles Pferd.«
Ich sah, wie sehr er erschrack.
»Du irrst! Du irrst sehr!« beeilte er sich zu sagen.
»Ich irre nicht. Ich werde hoffentlich bald noch mehr erfahren. Wo ist der Zettel, welchen Ihr mir abgenommen habt?«
»Welcher Zettel?«
»Du selbst hast ihn mir aus der Tasche meiner Weste genommen. Ich hoffe, daß er noch vorhanden ist.«
»Ich habe ihn weggeworfen. Es stand ja nichts Wichtiges darauf.«
»Mir scheint im Gegentheile, daß er sehr Wichtiges enthalten habe. Ich werde einmal suchen. Zeige Deine Taschen her!«
Er erhob sich, damit ich, wie er sich den Anschein gab, seine Taschen bequemer untersuchen könne; kaum jedoch streckte
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