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Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)

Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)

Titel: Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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vielgesehener und alltäglicher Gegenstand.
    Es darf uns daher nicht Wunder nehmen, daß die Phantasie des Menschen schon von Alters her die Pflanze personificirte und noch der Dichter der Gegenwart mit seinen rauschenden und duftenden Lieblingen wie mit lieben, freundlichen Wesen verkehrt, die ihn lieben, ihn kennen und Theil nehmen an den Leiden und Freuden seines Herzens.
    Die Mythe der alten nordischen Völker dachte sich die Welt gestützt von der großen Esche Ygdrasil, welche ihre drei Wurzeln nach Jotunheim, Asgard und Niflheim schlug; die Bibel beginnt ihren Bericht über die ersten Menschen mit der Erzählung vom Baum des Lebens und vom Baume der Erkenntniß; die frommen Sagen aller Völker wissen von heiligen Gewächsen zu berichten, und der Aber- und Wunderglaube knüpft an gewisse Pflanzen, Theile von ihnen oder Vorgänge an ihnen seine überraschenden Berichte.
    Wenn der denkende Mensch von der Stimme Gottes in der Natur spricht, so hat er ganz besonders das Reich der Pflanzen im Auge; denn hier wird jedes einzelne Blatt und selbst das kleinste Blümchen zum eindringlichen und freundlichen Prediger der Liebe, Allmacht und Allweisheit des himmlischen Vaters. »Und daselbst kam des Herrn Hand über mich und sprach zu mir: ›Mache Dich auf und gehe hinaus in das Feld; daselbst will ich mit Dir reden!‹ Und ich machte mich auf, und siehe, da stand die Herrlichkeit des Herrn vor mir,« heißt es im Propheten Hesekiel, und doch gehen Tausende an dieser Pracht und Herrlichkeit Gottes vorüber, ohne sie zu schauen und ihre Stimme zu hören.
    Wie laut und machtvoll ertönt diese Stimme bei dem alljährlichen Erwachen der Natur,
     
    »Wenn beim Klang der Kirchenglocken
    Frühling durch die Fluren geht
    Und der Wind die Blüthenflocken
    Von den duft’gen Zweigen weht,«
     
    um das menschliche Gemüth daran zu erinnern, daß es zwar eine Ruhe, aber nicht ein Aufhören des Lebens, einen Tod giebt! Welch hohe Beredtsamkeit liegt in der reifenden Stille einer befruchteten Flur, über welche sich der Reichthum goldener Aehren breitet:
     
    »O süßes Grau’n, geheimes Weh’n,
    Als knieten Viele ungesehn
    Und beteten mit mir!«
     
    Und selbst der raschelnde Fall des herbstlich gefärbten Laubes, das Knistern des Strauches unter der Fülle des winterlichen Schneekleides muß eine Stimme sein im hohen Liede der Natur.
    Ist es nicht rührend, daß die arme, einsame Nähterin ihr hochgelegenes, kleines Mansardenstübchen mit einer bescheidenen Reseda zu schmücken strebt, um nur ein Wesen zu haben, dem es Liebe und Pflege erweisen darf? Und ist es vielleicht so ganz von ohngefähr, daß die schwellende Knospe, die duftende Blüthe so oft und gern gebraucht wird als ein Bild der »Menschenblume, der holden?« Wenn der Dichter begeistert ausruft:
     
    »Da haben wir staunend Dich angeseh’n,
    Waldröslein, so jung und so maienschön,«
     
    oder wenn der ferne Wandersmann seiner Sehnsucht Worte giebt:
     
    »Im Heimathsdörfchen blüht die Rose,
    Die’s meinem Herzen angethan,«
     
    so stehen »Waldröslein« und »Dorfröschen« vor dem geistigen Auge des Hörers nicht als gleichgeartete, sondern als verschiedene begabte Wesen da, und es ist doch, als hätte jede Blüthe, wie die Sage berichtet, ihren eigenen Engel, der als Blumenseele aus der Krone lauscht und in der Tiefe des Kelches die lieblichen Mysterien des Duftes webt und dichtet. Wer könnte darum über die kindliche Anschauung lächeln, welche sich hütet, eine Blume zu brechen, weil dadurch ein zartes, geheimnißvolles Leben zerstört und vernichtet wird, oder wer wollte des Märchens spotten, welches die segenspendende Flur unter den Schutz einer fleißigen Fee stellt, die über Feld und Wiese wacht und jeden Raub mit Zauberbann bestraft?
     
    »Laß steh’n die Blume,
    Geh’ nicht ins Korn:
    Die Roggenmuhme
    Geht um da vorn!«
     
    warnt die Bäuerin der Altmark ihr Kind, wenn es nach einer azurblauen Cyane greift, und es ist nicht zu leugnen, daß   diesem wie überhaupt jedem Aberglauben eine an und für sich reine und beachtenswerthe Idee zu Grunde liegt. Es bringt dem Menschengeschlechte keine Gefahr, wenn die Poesie ihren belebenden Hauch über die Felder breitet und ein seelisches Leben und Walten da findet, wo der nüchterne Verstand nur Knollen, Kraut und Wurzeln sucht. Ist es doch, als wolle die dichtende Phantasie Ersatz bieten für die Selbstsucht der Menschenkinder, welche an das Wort »Feld« am liebsten den Begriff der Erndte, des

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