Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
sich ernähren, so finden wir auch unter den Gewächsen Raubpflanzen, die im Safte und Blute der übrigen schwelgen. Sie hängen sich ihnen an, dringen mit ihren Saugröhren in sie ein und zehren ihre Kräfte auf. Wie in den Wildnissen Südamerika’s die Räuber des Thierreiches am zahlreichsten vertreten sind, so wuchern in den dortigen Urwäldern auch die gewaltigsten Schmarotzerpflanzen. Armesdick umspannen die Lianen die Stämme, schleichen von Baum zu Baum in einer Länge von vielen Hundert Fuß fort, schnüren wie Seile ganze Waldungen zusammen und machen sie so undurchdringlich, daß mit der Axt oftmals hundert Bäume von ihrer Wurzel getrennt werden und dennoch in der Umschlingung stehen bleiben. Unter dieser tödtlichen Umschlingung ersticken die Bäume, verfaulen und zerfallen, während der Mörder auf neuen Raub ausgeht. Die Mistel bohrt ihre aussaugenden Wurzeln zwischen die Rinde unserer Obstbäume und entkräftet sie. Der Frauenflachs geht ebenso mordend von einer Pflanze zur anderen, ja, ganze Geschlechter und Familien stehen einander feindlich gegenüber und kämpfen so lange, bis das eine ausgerottet oder gewichen ist. Ein auffälliges Beispiel hierzu bieten die Zapfenträger und die Kätzchenträger. Deutschlands riesige Eichenwälder haben verschwinden müssen, weil sie in den nadeltragenden Forsthölzern überlegene Feinde besaßen, welche sich in sie eindrängten, ihre Lücken ausfüllten, ihre geschlossene Ordnung auseinandertrieben und mit dem jungen, schnellen Nachwuchse die alten, knorrigen und langsam wachsenden Veteranen um ihre angestammten und ehrwürdigen Rechte betrogen.
Ist es unter den 400,000 Arten der Pflanzen nicht grad’ ebenso, wie unter den verschiedenen Arten der Menschenkinder? Die Beziehungen der einzelnen Naturreiche zu einander und zu dem Reiche der Nachkommen Adams sind überraschend innige. Das eine bereitet das andere vor, bildet es ab und setzt sich als Grundlage einer höheren Etage im Gebäude der irdischen Welt. Selbst wenn wir der einzelnen Pflanze ein metaphysisches Etwas, eine selbständige Seelenthätigkeit absprechen müssen, können wir doch nicht leugnen, daß der große Geist des Weltenalls die kleinste Flechte ebenso durchdringt, wie den gewaltigen Riesen des Waldes, daß er ebenso deutlich aus dem Gänseblümchen spricht, wie er aus dem Glanze des südlichen Kreuzes predigt, daß er sich im Dufte der Rose und dem Rauschen des Forstes ebenso nachhaltig offenbart, wie in dem Klange der Psalmen und dem Donnerworte vom Sinai. Es gilt eben hier wie überall das Wort Christi: »Wer Ohren hat zu hören, der höre!«
Von diesem Gesichtspunkte aus hat eine jede Pflanze unbestreitbar ihre Seele, ihren Character, ihre Physiognomie und ihre Sprache. Die Tanne rauscht, die Linde säuselt, die Cypresse klappert mit ihren Zweigen; andere knarren; die Blätter lispeln und flüstern, sie scherzen und kosen; der Wald hat sein Piano und Fortissimo, sein Crescendo und Decrescendo, sein Solo und sein Tutti, überall aber nur eine Tonart: In Moll allein ertönt die Musik, die Stimme der Natur und reicht mit ihrem Einflusse so weit, daß kindliche Völker ihre Lieder allein nur in Moll singen.
Dur ist die Tonart der That, des wildbewegten Lebens; die Natur dagegen ist ein großes, elegisches Gedicht. Ihr ganz hingegeben, versinkt auch der Mensch, sei es im Rauschen des Waldes, im Sausen des Windes, im Plätschern des Regens oder im Donner des Meeres in eine elegische, weiche Stimmung. Darum war der Wald zu allen Zeiten der Vater der Lyrik, und die Sprache der Natur ist auch allzeit die Sprache des einfachen, der Natur noch nahestehenden Menschen.
Die Physiognomie der Pflanzen ist eine doppelte, eine allgemeine und besondere. Die Teppichvegetation der Moose, Flechten und Gräser, die Stockvegetation des Bambus, der Bananen und Cactusarten, die Kronenvegetation der Laub- und Nadelwälder, die Schopfvegetation der Farren, Pandanen und Palmen und die Verzierungsvegetation, welche aus Orchideen, Winden, Lianen und Pfeffergewächsen ihre Ornamente zeichnet, sie alle haben ihren eigenen, deutlich ausgeprägten Character. Aber neben demselben besitzt jedes einzelne Individuum dieser Pflanzenarten seine speciellen Eigenthümlichkeiten, die nur dem liebevollen Auge des Naturfreundes erkenntlich sind, weil ihm die Rose an seiner Brust, der Halm zu seinen Füßen, der Blüthenzweig in seiner Hand, der Wipfel über der Firste seines Daches unendlich mehr bedeutet, als nur ein
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