Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
die Berechtigung der Existens den Maßstab des Nutzens, welchen ein Geschöpf dem andern, vorzüglich aber dem Menschen bringt. Je größer die Vortheile sind, welche ein Thier dem Letzteren bietet, desto lieber und sorgsamer nimmt er es in seine Pflege, unter seinen Schutz und sorgt für die Erfüllung aller nothwendigen Lebensbedingungen. Mit ihm dem Menschen, entwickelt sich auch das Thier, indem es sich den verschiedenartigsten Veränderungen unterwirft, und es ist gar nicht zu leugnen, daß in Beziehung auf das Thierleben ebenso von einem Fortschritte gesprochen werden kann, wie in Beziehung auf die Zustände der menschlichen Gesellschaft. –
Es gab eine Zeit, in welcher der Mensch einsam stand in der großen, weiten Schöpfung, den anderen und zwar sehr oft feindlichen Daseinsformen gegenüber angewiesen allein auf seine noch unentwickelte geistige Kraft. Ohne äußere Vertheidigungswaffen sah er sich den Angriffen von Thieren ausgesetzt, mit denen er sich in körperlicher Beziehung unmöglich messen konnte und die er in seiner kindlichen Einfalt deshalb mit seinen jungen Begriffen mit einem höheren, göttlichen Wesen in Verbindung brachte: er betete sie an oder stellte sie wenigstens unter den Schutz der Religion, erklärte sie für heilig. Er hatte noch keine Beobachtungen gemacht, keine Erfahrungen gesammelt, hielt sie deshalb für geistig sich ebenbürtig und dichtete ihnen Eigenschaften an, welche ihr Dasein allein nur seiner Einbildungskraft verdankten.
Diese Phantasie blieb auch dann noch thätig, als seine fortgeschrittene Kenntniß einem jeden Wesen längst den ihm angewiesenen Platz angewiesen hatte, und Legende, Sage und Fabel sind bis auf die heutigen Tage thätig geblieben, die Seele des Thieres in eine innigere und nähere Beziehung zu dem Menschengeiste zu stellen, als es die Natur gethan hat. Die Mythologie und Geschichte der Alten kennt zahlreiche Wesen, welche halb Mensch, halb Pferd, halb Fisch oder Vogel waren, und berichtet von Thieren, welche mit den übernatürlichsten Gaben und Eigenschaften ausgestattet sind. Besonders gern thut dies die nordische Mythe, welche das Götterleben mit den wunderbarsten Thiergestalten schmückt und sogar die Seligen in Walhalla mit einem Eber versorgt, dessen Fleisch, wenn es verspeist worden ist, immer wieder lebendig wird, damit es morgen wieder geschlachtet und genossen werden kann. Wie bedauerlich, daß es nur in der Sage und nicht auch in Wirklichkeit solche »Braten ohne Ende« giebt!
Auch die späteren Zeiten haben ihre geheimnißvollen Erzählungen, welche, wie z.B. die Geschichte von der schönen Melusine, ihren eigenthümlichen Eindruck auf das kindliche Gemüth nicht verfehlen. Damals gab es noch Zauberer und Feen, welche arme Menschenkinder in Thiere verwandelten und sie nur unter schwer zu erfüllenden Bedingungen wieder frei gaben; da horstete noch der Vogel Greif über den Wolken, und Drachen, Lindwürmer und anderes furchtbare Gethier forderten die Heldenkraft des Muthigen zum Kampfe heraus. Bis in den heutigen Tag herein klingen diese romantischen Berichte und tauchen hier oder da ganz unerwartet in ihren Reflexionen in der Anschauung des Volkes empor. Mit einem Sperlingsei kann man sich unsichtbar machen; ein Schluck aus der in einem Ameisenhaufen vergrabenen Weinflasche giebt Elephantenstärke; der Zahn einer Fledermaus verleiht ewige Jugend; bei Liebestränken, Amuletten und tausend Geheimmitteln spielen Theile des thierischen Körpers eine hervorragende Rolle, und sogar die Seelenwanderung spukt zuweilen noch in einem dunklen Kopfe, welcher sich zu dem heroischen Entschlusse geneigt finden läßt: »Alles will ich werden, nur kein Droschkengaul!«
Im Gegensatz davon hat auch die heilige Geschichte ihre Thiergestalten von der Schlange des Paradieses bis zu dem
» ….. Kripplein was,
Von dem ein Ochs und Esel fraß,«
bei welchem frommen Reime der weniger Befangene allerdings unwillkürlich an die bekannte A-B-C-Buch-Tragödie erinnert wird: »Ein toller Wolf in Polen fraß den Tischler sammt dem Winkelmaaß.« Lieblicher dagegen klingt die Erzählung von den Tauben Noahs und den Raben, welche den Propheten speisten. »Was hab’ ich Dir gethan, daß Du mich schlägst nun zu dreien Malen?« fragt daß zum Verwundern Bileams Leibeselin, und bekannt ist ja, mit welcher ergreifenden Macht die biblische Sprache sich der Beispiele aus dem Thierleben zu bedienen weiß. Die ganze Sehnsucht eines von der Reue gefolterten
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