Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Herzens ist ausgesprochen in den wenigen Worten: »Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser;« wie erschütternd klingt die Drohung von dem Auge, welches »die Raben am Bache aushacken und die jungen Adler fressen,« und kein bezeichnenderes Wort für Christi Lehre und Character konnte es geben, als den Hinweis: »Siehe, das ist Gottes Lamm.« Wer hat noch nicht gelesen von jenem »Wurme, der nie stirbt,« oder von jener Scheidung in »Schafe und Böcke,« mit welcher der Letzte und Größeste der Propheten das Walten der ewigen Gerechtigkeit illustrirt?
Auch die heiligen Bücher und Traditionen anderer Religionen greifen fleißig in das Leben der Thiere oder nehmen dieselben wohl gar so in Schutz, daß sie die Tödtung derselben verbieten. »Thiur el Djinne,« Vögel des Paradieses nennt der Araber die Schwalben, weil sie, als der Herr den Garten Eden verschloß, an dem flammenden Schwerdte des Engels vorüber flogen, um dem Menschen in das Elend der Verbannung zu folgen; überhaupt versteht es der Orientale gut, in dieser Weise die bekannten Gestalten und auffälligen Erscheinungen des Thierreiches mit seinen religiösen Anschauungen in Verbindung zu bringen und sich mit einer Fülle von Mährchen und Sagen zu umgeben, welche dem realistischen Abendländer erdrückend vorkommen möchte. Dieser liebt die nüchterne, auf Thatsachen fußende Darstellung, und wo seine Dichtkunst sich mit dem Thiere beschäftigt, so thut er es, wie z.B. in dem Epos von Reinecke, dem Fuchse, oder im »Froschmäusler« von Fischart, als Psycholog oder Satyriker.
Das Thierreich ist höchst wohlhabend an psychologischen Characteren, und viele von ihnen sind so scharf gezeichnet, daß sie als Typen Eingang in die vergleichende Redeweise des alltäglichen Lebens gefunden haben. Von der Wachsamkeit des Hundes, der Falschheit der Katze, der Verschlagenheit des Fuchses, dem Fleiße der Biene, der Gefräßigkeit des Hamsters etc. kann man täglich und stündlich sprechen hören, und es ist hier wirklich der Mühe werth, beobachtende Vergleiche anzustellen.
Es giebt oft menschliche Physiognomieen, welche mit denen gewisser Thiere eine auffallende Aehnlichkeit haben, und eine genaue Beobachtung ergiebt dann stets, daß diese Aehnlichkeit sich nicht blos auf das Aeußere, sondern auch auf den Character erstreckt. Ein Gesicht mit eng bei einander stehenden Augen, zurückgebogener, niederer Stirn und schmalen, zugespitzten Zügen hat unbedingt etwas Raubvogelähnliches, zumal wenn der Kopf nach vorn getragen wird, während ein kurzer, starker Nacken, große Ohren, dicker und breiter Schädel, grobzügiges Gesicht mit breiter Nase, kleinen Augen und breiten, gradgeschnittenen und wulstigen Lippen unwillkürlich an jenes Thier erinnert, welchem man, wenn es drischet: »das Maul nicht verstopfen soll.« Mag man solche Vergleiche immerhin als gesucht bezeichnen, der aufmerksame Beobachter spricht mit vollem Rechte von Fuchs-, Mops-, Bullenbeißer-, Eulen-, Affen-, Esels- und anderen Gesichtern, und wenn wir das Recht in Anspruch nehmen, von Adler- und Habichtnasen zu reden, so müssen wir auch auf die Erlaubniß bestehen, andere Körpertheile zu einem Vergleiche heranzuziehen. Der Bau und die Haltung des Körpers, der Gang, der Klang der Stimme, die Art und Weise des Mienenspieles und des sprachlichen Ausdruckes sind hierbei mit in Betracht zu ziehen, und wenn wir hier Storchbeine, Reh- und Gazellenaugen, Stiernacken, Gorillaarme und Bärenschritt bunt untereinander aufzählen, so geschieht dies mit derselben Wahrheit des Vergleiches, mit welcher man z.B. von einem »Fuchsschwänzer« spricht, einem Men schen, der sich durch seine ganze Haltung und jede seiner Bewegungen als das zeigt, was er ist – ein »Schlaupelz,« dem es darum zu thun ist, durch scheinheilige Lobhudeleien seine Zwecke zu erreichen.
Die Frage, ob das Thier eine Seele besitze, ist für den gegenwärtigen Stand unserer Kenntniß eine vollständig überflüssige, wenn auch die Untersuchungen über die Thätigkeit dieser Seele kaum über die Anfänge der thierpsychologischen Forschungen hinaus gediehen sind.
Instinct oder Ueberlegung? Wie oft hört man diese beiden Worte aussprechen, die doch beide eine geistige Thätigkeit bezeichnen, welche auf die Handlungen des Thieres bestimmend einwirkt. Denn wäre unter dem Instincte ein bloßer, dem Bewußtsein vollständig fremder Naturtrieb zu verstehen, so müßte man von einem solchen auch bei der Pflanze sprechen, welche die
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