Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
er nicht zu annulliren vermag. Die sonnige Höhe einer von freundlichen Blumen geschmückter Flur, die nebelfeuchte Verborgenheit eines dunklen Waldgrundes, die düstere Armuth einer von Trümmern besäeter Felsenschlucht sind Orte, an denen der Quell zu Tage tritt. Ist’s nicht mit der Geburt des Menschen dasselbe? Wie die Richtung eines Flusses von der Beschaffenheit seines Quellgebietes abhängig ist, so ist auch der Ort, an welchem ein Menschenkind das Auge erschloß, nicht gleichgültig für die spätere Richtung seines Lebens, für den Verlauf seines Schicksales. Und wie ein jeder Strom sein Dasein doch nur dem Meere zu verdanken hat, welches ihn mittelst der Wolken speist – Yang – tse – kiang, Meer-Sohn-Fluß, also Oceanssohn, nennen deshalb die Chinesen sehr bezeichnend ihren blauen Fluß – so ist auch jedes einzelne Individuum in geistiger und materieller Beziehung ein Kind zunächst seines Muttervolkes und dann im Allgemeinen auch des großen Menschenoceanes, welcher seine Fluthen um den Ball der Erde schlägt. Eine jede Bewegung, welche auf diesem Oceane sich geltend macht, dringt früher oder später bis in die entferntesten Winkel und äußert ihre Kraft in höherem oder geringerem Grade selbst an dem einsamen Kohlenbrenner oder dem Einsiedler, welcher meint, in seiner verlorenen Klause der Welt entfremdet und von ihr abgeschlossen zu sein.
Aus der Quelle des mütterlichen Schooßes fließt das Menschenleben durch den Kreis der Familie und das Gebiet der Gemeinde und des Volkes hinaus in das bewegte Treiben des menschlichen Geschlechtes, überall Zuflüsse aufnehmend, nie ruhend, nie rastend, zu immerwährender Thätigkeit gezwungen, bis es in den Jahren des Alters ermüdet und in immer langsamerem Laufe zögernd seiner Auflösung entgegen geht. Kein Fußbreit des Stromes gleicht dem andern, kein Lebenstag ist ein vollständiges Bild des ihm nächstfolgenden; in reichem Wechsel hat sich die Kraft zu bewähren, und so einförmig auch die Tage irgend eines gewöhnlichen und anspruchslosen Menschen dahinzufließen scheinen, in dem Bette der Alltäglichkeit wirft doch die Strömung ihre Wellen, deren jede bei aller Aehnlichkeit doch so verschieden von der andern ist.
Das Wasser schlängelt sich glitzernd durch die saftige Matte, es springt spielend über die Kiesel des Baches, murmelt träumerisch zwischen buschigen Weiden dahin, rauscht schäumend über die hindernden Wehre, stürzt stiebend und zischend in den Kessel des Falles, fluthet rauschend, bald in gefährlichen Wirbeln, bald in ruhiger, schiffetragender Breite an Städten und Dörfern vorüber und wälzt endlich seine Wogen durch die Mündung, schon längst vorher mit den Gezeiten des Meeres kämpfend. Die Kindheit, das Jünglings-, Mannes- und Greisenalter bieten dieselben Erscheinungen, und überall sehen wir den ordnenden menschlichen Willen in Fehde mit den ungezügelten Gewalten der Natur, welche nur dann des Segens Früchte spenden, wenn sie gezwungen werden, sich weisen Gesetzen unterzuordnen.
Wie oft gleicht das Leben eines Menschen einer breiten, geebneten Chaussee, welche durch lachende Gefilde führt und das Vorwärtskommen beschleunigt, indem sie alle Hemmnisse schon im Vorher glücklich überwunden hat! Solche Menschen, meist hoch oder reich geboren, fliegen von Baum zu Baum, von Blume zu Blume, von Genuß zu Genuß und sehen in dem irdischen Sein nur eine ununterbrochene Reihe von Vergnügungen, in denen sie Glück und Befriedigung zu finden glauben. Und doch ist ihnen das wahre Glück, die wirkliche Herzensbefriedigung versagt, denn das Glück ist kein wirklicher, greifbarer Gegenstand, sondern einzig und allein nur zu finden in dem Ringen nach ihm. Nicht das Ziel ist es, was begeistert, sondern das Streben nach demselben bringt mit jedem neuen Schritte, jedem neuen Erfolge auch immer größere Genugthuung und Beseligung, und ist es erreicht, so schweift der Blick sofort wieder in die Ferne, um sich neue Ziele zu suchen.
Wie oft gleicht das Leben eines Menschen einer angestrengten und mühevollen Wanderung auf steilem, schwindelndem Pfade, der an Abgründen und Schluchten vorüber in das Land des Jenseits führt! Solche Menschen scheinen von der Vorsehung bestimmt, den Fluch: »Im Schweiße Deines Angesichtes sollst Du Dein Brot essen« in ganz besonderer Weise zu tragen; aber grad’ die Leiden sind die besten Gaben des Himmels, und in den schmerzensreichen Geschicken ruht eine tiefe göttliche Weisheit und Liebe.
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