Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
das ihm vorgesteckte Ziel zu erreichen. Denn wie jeder einzelne Wasserlauf für den Nutzen einer besonderen Gegend bestimmt ist, so hat auch jedes einzelne Volk an einer Aufgabe zu arbeiten, die ihre Grenzen innerhalb einer ganz bestimmten Ausdehnung von Zeit und Raum findet.
Wenn die mit Feuchtigkeit und Electricität geschwängerte Atmosphäre ihre Last nicht mehr zu halten vermag, dann erhebt das Gewitter seine grollenden Donner und durchzuckt mit leuchtenden Blitzen den zur Nacht gewordenen Tag. Hohen Segen vermag es der ermüdeten und lechzenden Erde zu bringen; es erquickt die Natur nach angestrengtem Schaffen und sättigt den Boden mit neuen, fruchttreibenden Kräften. Aber auch das Verderben lauert hinter den hoch auf sich thürmenden Wolken, denn, wie Schiller sagt:
»Doch furchtbar wird die Himmelskraft,
Wenn sie der Fessel sich entrafft,
Einhertritt auf der eignen Spur
Die freie Tochter der Natur.
Wehe, wenn sie losgelassen,
Wachsend ohne Widerstand,
Durch die volksbelebten Gassen
Wälzt den ungeheuren Brand!
Denn die Elemente hassen
Das Gebild der Menschenhand.
Aus der Wolke
Quillt der Segen,
Strömt der Regen,
Aus der Wolke, ohne Wahl,
Zuckt der Strahl.«
Dann frißt das glühende Element die Erzeugnisse der menschlichen Arbeit mit nur schwer zu bewältigender Gier, und die Fluthen, von rapidem Wachsthum über die schützenden Ufer getrieben, rollen über Feld und Flur, ziehen das vergeblich gegen sie ankämpfende Leben in ihre schmutzige Tiefe und verwüsten die Stätten, in denen der Mensch seine Hoffnungen in die Erde legte, damit sie zu einer reichen Erndte heranreifen möchten.
So auch im Leben des Volkes. Auch hier giebt es einen Blitzstoff, welcher sich nach zunehmender Schwüle über gewisse Kreise entladen und entweder Heil oder Unheil bringen kann.
»Wo rohe Kräfte sinnlos walten,
Da kann sich kein Gebild gestalten;
Wenn sich die Völker selbst befrein,
Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn.
Weh, wenn sich in dem Schooß der Städte
Der Feuerzunder still gehäuft,
Das Volk, zerreißend seine Kette,
Zur Eigenhülfe schrecklich greift!
Da zerret an der Glocke Strängen
Der Aufruhr, daß es heulend schallt
Und, nur geweiht zu Friedensklängen,
Die Losung anstimmt zur Gewalt.«
Die Revolutionen mögen immerhin ihre Vertheidiger haben, welche sich Mühe geben, die Nothwendigkeit derselben zu begründen, es wird doch nie zu leugnen sein, daß die Gewalt eine gefährliche Maßregel sei und die, wenn auch langsamere aber friedliche Entwickelung der staatlichen Verhältnisse einer Ueberstürzung vorzuziehen ist, welche rücksichtslos über Glück und Leben zahlreicher Bürger streitet und den wirthschaftlichen Wohlstand ebenso wie die öffentliche Ruhe und Sicherheit erschüttert. Man hat die segensreichen Folgen der französischen Revolution gepriesen; diese Folgen sind allerdings nicht wegzudemonstriren, aber man vergleiche sie mit den Opfern, welche sie gekostet haben, und sie werden bedeutend an Werth verlieren. Die normale Höhe und Geschwindigkeit einer Strömung ist dem Wohlstande stets günstiger als eine Anschwellung der Fluth, welche auf das Signal »Im Hochlande fiel der erste Schuß« von den mit thauendem Schnee bedeckten Bergen mit drängender Gewalt zu Thale treibt.
Nicht alle Flüsse und Ströme ergießen ihre Wasser in das Meer; sie verlaufen sich zuweilen in sumpfiger Niederung oder versiechen im dürren Steppensande. Ein Blick in das Leben der Völker zeigt uns ähnliche Erscheinungen, über die hier nur eine Andeutung gegeben werden soll. Und wie auf höher liegendem Gebiete das Wasser ein lebhafteres Gefälle zeigt als in ebenen Ländern, so ist auch die Entwickelung der Gebirgsvölker eine durchschnittlich raschere als diejenige der tiefer wohnenden Nationalitäten. Die meisten der heilvollen Anstöße, welche die Geschichte des menschlichen Fortschrittes zu verzeichnen hat, sind von den Bergen herab gegeben worden, und wie jene stagnirenden Gewässer, welche wenig oder gar keinen Zu- und Abfluß zeigen, nur in streng von der Außenwelt abgeschlossenen Hochthälern oder auf ebener Niederung vorkommen, so ist auch nur an diesen beiden Punkten die Erscheinung zu bemerken, daß die Bewohner einer besonderen Gegend oder eines ganzen Landes sich dem kräftigen Vorwärtsdrängen der Cultur entzogen sehen.
Auch ein jeder einzelne Mensch hat seine Wege und Straßen, welche er geht, und fühlt den Einfluß gewisser Strömungen, dessen Wirkung
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