Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Ausgangspunkte zurückführt, während der Geist in unaufhaltsamem Fluge immer weiter vorwärts eilt, so auch im Leben der Völker, wie des einzelnen Menschen. Die Nationen kommen und verschwinden wieder; sie haben ihre Kindheit, ihre Jugend, ihr Mannes- und ihr Greisenalter, und dieses letztere kehrt, um den Kreislauf zu vollenden, gern wieder zur Kindheit zurück. Bei den mehr allgemeinen und entwickelteren Eigenschaften des Völkerlebens ist dieses Zurückkehren nicht ein so augenfälliges, wie bei dem einzelnen Menschen, der nicht nur in Beziehung auf den Körper im Alter sich niederbeugt, sondern auch geistig zurückkehrt zu den kindlichen Anschauungen seiner früheren und glücklicheren Jahre. Es ist, als habe der Geist die Schärfe seines Denkens und die Energie seines Handelns im Kampfe des Lebens genugsam verwerthet und wolle nun am Abende des irdischen Tages dem so oft zurückgesetzten und vernachlässigten Gefühle wieder seine volle Berechtigung gestatten; ja, es ist, als müsse der Geist angesichts der nahe stehenden Trennung von seiner sterblichen Behausung zu seiner Kinderweise zurückkehren, um als Kind für ein neues, besseres und höheres Dasein geboren werden zu können. Ist es ein Wunder, daß das in das Leben erst eingetretene Kind und das vom Leben scheidende Kind durch den Zug einer wohlthuenden Sympathie einander genähert werden? Die Morgenröthe der Jugend und das verglühende Abendroth des Alters, was sind sie anders, als die Reflexe einer und derselben Sonne, die eine vor dem Tage und das andere nach demselben. Das ist der andere Grund.
Es ist eine falsche Ansicht so vieler Eltern, daß die Liebe der Kinder ausschließlich durch Milde oder gar Nachsicht zu erlangen sei. Eine wirkliche fruchtbringende und dauernde Kindesliebe ist nur dann möglich, wenn sie ihre Wurzeln in dem gedeihlichen Boden der Achtung und Ehrerbietung schlägt, und wirklich bemerken wir die echte und rechte Kindesliebe nur da, wo sich »die Milde mit der Strenge paart«. Es mag eine Züchtigung des Kindes dem Elternherzen wehe thun; aber der verständige Vater, die vernünftige Mutter wird größeren Schmerz empfinden bei der Entdeckung eines bösen Triebes am jungen Baume des Kinderlebens, als bei den durch die nothwendige Strafe hervorgerufenen Klagen. »Es ist besser, daß ein Glied verloren gehe, denn daß der ganze Leib verderbe«, und eine strenge, aber gerechte Kinderzucht ist viel, sehr viel werth.
Worin liegt wohl anders der Grund der gegenwärtigen vielen und allgemeinen Klagen über die Undankbarkeit und den Ungehorsam der Kinder, der Klagen über eine Zeit, welche das Bibelwort: »Ehre Vater und Mutter mit der That, mit Worten und Geduld, auf daß ihr Segen über dich komme,« ganz vergessen zu haben scheint, als in den Eltern selbst, welche nicht verstehen, »die Zügel straff zu halten« und die unnützen Schößlinge nachsichtslos zu verschneiden!
Und hier kommt nicht blos die Schwäche der Eltern in Beziehung auf die Disciplin in Betracht, sondern es werden hier noch eine Menge anderer und schwererer Sünden begangen. Zunächst ist der Stolz zu bemerken, mit welchem sehr viele Mütter auf die äußeren und sehr viele Väter auf die inneren vermeintlichen Vorzüge ihrer Kinder blicken. Jede Gabe der gütigen Natur ist ein unverdientes Geschenk, eine Gnade, für welche Demuth und Bescheidenheit die beste Dankbarkeit ist. Das Kind auf äußerliche Schönheiten aufmerksam machen, ist nicht nur unvorsichtig, sondern einer der bedeutendsten Fehler, welche man begehen kann. Geistige Vorzüge giebt es bei einem Kinde, welches alle seine Fähigkeiten ja erst noch zu entwickeln hat, absolut gar nicht, und doch sieht man so häufig, daß Väter die wunderbare Klugheit und Geschicklichkeit ihrer Söhne nicht genug rühmen und preisen können und dieses Lob am liebsten in der Gegenwart des vermeintlichen Genies aussprechen. Wenn doch diese Väter wüßten oder bedenken wollten, daß schon mancher hoffnungsvolle Knabe moralisch todtgelobt worden ist und an der hohen Meinung seiner Eltern, die er natürlich auch zu der seinigen machte, jämmerlich zu Grunde ging.
Man kann sich eines gewissen Mitleides nicht erwehren, wenn man so häufig bemerkt, daß Eltern von ihren Bediensteten das hochachtungsvollste und schonendste Benehmen gegen ihre Kinder fordern. Man sollte bedenken, wie gefährlich es ist, den Hochmuth mit all’ seinem Gefolge in das kleine Herz eines solchen Prinzchens oder einer solchen Prinzeß
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