Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
seine Hände sich als Tastorgane immer mehr ausbilden und seine Zunge die Fähigkeit erlangt, Gefühle, Vorstellungen und Wünsche mittelst der Sprache auszudrücken, und zu gleicher Zeit zeigt sich die beginnende Entwickelung des Verstandes.
Daß dieser nicht auf einmal in Thätigkeit tritt, zeigt sich in der »Kindersprache«, die jedes Kind nach Fassungskräften sich selbst bildet und zu der auch seine Erzieher sich herablassen müssen. Aber erst dann, wenn die Kinder vermöge der Sprache auch abstracte Begriffe auszudrücken wissen und ihre Begriffe in Sätzen zu Urtheilen und Folgerungen verbinden lernen, erlangt der Verstand so viel Schärfe und Stärke, daß die im Gedächtniß aufgefaßten Vorstellungen auch für das spätere Leben erhalten bleiben und die Kinder wirkliche Lebenskenntnisse sich zu erwerben fähig werden. Daher kommt es, daß Erwachsene nicht leicht Erinnerungen haben, welche über das vierte Lebensjahr zurückgehen.
Immer aber behält die Einbildungskraft und der selbstständige Thätigkeitstrieb das Uebergewicht über den wachenden Verstand. Beide treiben das Kind zum Spiele, als seiner eigentlichen Lebensschule. Da das Vernunftvermögen in dieser Periode nur erst im Aufkommen begriffen und noch unentwickelt ist, mithin auch kein sittliches Gebot die Handlungen des Kindes bestimmt, so befindet sich sein Leben noch vollständig im Stande der Unschuld und erregt dadurch das Wohlgefallen und die Liebe der Erwachsenen. Aber gleichwohl bedarf dieses in der Kindesnatur vorwaltende egoistische Princip der Beschränkung und Mäßigung, um Kinder zum Leben mit Erwachsenen vorzubereiten. Dies geschieht durch die Kinderzucht, deren Aufgabe es ist, den Egoismus der Kinder zu beschränken und zu leiten, sodaß diese Hemmung der möglichst freien Entfaltung der körperlichen und geistigen Kräfte des Kindes nicht hinderlich ist.
Meist werden nur wenige schmerzhafte, in der Erinnerung zurückbleibende Erfahrungen des Kindes, daß sein Eigenwille einem fremden, verständigeren Willen untergeordnet sei, zureichen, es zum freiwilligen Gehorsam zu bewegen, welcher in dieser Periode in der Kinderzucht die Stelle des Sittengesetzes vertritt und vernünftige Consequenz in der Leitung der Handlungen des Kindes, im Gestatten und Untersagen und dadurch Gewöhnen zu dem, was zu seinem eigenen Heile gereicht, und vor allem gutes Beispiel der Erzieher und anderer Kinder, mit denen es aufwächst, die Erziehung in dieser Periode vollenden, ohne dem Kindesleben in seiner freien Entwickelung Eintrag zu thun.
Dieser Typus ist in der menschlichen Natur so tief begründet, daß er auch nach dem Erwachen der Vernunft im späteren Lebensalter, als Kindlichkeit in Bezug auf Personen, welche im Leben höher gestellt sind, für eine Tugend gilt. Es ist aber auch diese Periode die eigentliche Zeit des Lernens und als solche auch durch den Trieb, der besonders als Neugierde hervortritt, angedeutet, aber doch nur des Lernens oder des Erwerbes von solchen Kenntnissen, die innerhalb der nächsten Umgebung des Kindes und die auch nur seine Neugierde erregen und durchaus nur Sinnesgegenstände sind, sich befaßt.
Man muß diesen Lerntrieb verständig befördern, aber ohne das Kind noch mit eigentlichen Lehrstunden zu plagen; höchstens ist es rathsam, sich in denselben auf Gewährung von Anschauungen und auf Uebung der Urtheilskraft zu beschränken, nicht aber auf Aneignen von Fertigkeiten sich auszudehnen. Sowie der Geist zu einer verständigen Besonnenheit gelangt, haben auch die Schädelknochen durch Verwachsung sich vollständig geschlossen und das Gehirn die Größe erlangt, die es für das Leben behält.
Die dritte Periode des Kindeslebens beginnt mit dem Wechsel der ersten Zähne, tritt also mit dem siebenden Lebensjahre ein. Die ganze geistige und körperliche Entwickelung schreitet vorwärts, die Scheidung des Geschlechtes und der Verfolg von Lebensbestimmungen, die zunächst aus der Geschlechtsverschiedenheit hervorgehen, wird schon merklich. Kinder männlichen Geschlechtes fassen als Knaben immer vorwaltender ein höheres Interesse für Gegenstände, die zunächst in Lebenskreisen von Männern im späteren Alter, Mädchen dagegen für solche, die Frauen näher liegen oder auf ihre Bestimmung Bezug haben. Vorrückend in diesem Alter, zeigen Knaben und Mädchen einerseits eine Art von Scheu und Abneigung gegen einander, häufig aber auch eine, aber nur auf Einzelne sich richtende Zuneigung für einander, die, zumal bei
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