Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
blühen und sprießen sollen. Es ist ein fürchterlicher Fluch, der in diesen Worten liegt, bei deren Klange man sich fast eines Schauders nicht erwehren kann, aber es liegt eine tiefe Wahrheit in dem Satze, daß die ewige Gerechtigkeit keine Sünde so streng bestraft, wie diejenige, welche an Vater und Mutter begangen wurde.
In der Reihe der zehn Gebote, welche Gott der Herr seinem Volke von den Höhen des Sinai herab dictirte, schließt sich das »du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren« eng an diejenigen an, welche von den ernsten Pflichten gegen Gott handeln, und in dieser Anordnung liegt eine sehr verständliche Hindeutung auf die Heiligkeit der elterlichen Würde. Sie die Eltern, vertreten in dem Zeugungsacte die göttliche Allmacht und bringen bei der Erziehung ihrer Kinder jede einzelne der göttlichen Eigenschaften zur Bethätigung und Anschauung; sie sind Stellvertreter Gottes, und darum ist das vierte Gebot das erste Gebot, das eine Verheißung hat: »auf daß es dir wohl gehe und du lange lebest auf Erden.«
In den patriarchalischen Zeiten war der Vater nicht nur der Richter, sondern auch der Priester des Hauses, und diese Würden sind bis zu einem gewissen Grade dem Hausherrn durch alle Zeiten bis in die Gegenwart herein treu verblieben. Die Disciplin der Familie, welche von so großem Einflusse auf das Ordnungsgefühl des Volkes ist, ruht in seinen Händen, und wenn auch die Erweckung und Pflege des religiösen Sinnes in erster Linie von der Mutter ausgeht, so ist doch vorzugsweise er zum Wächter gesetzt über die Herzensäußerungen der Kleinen und hat das fröhliche und ungehinderte Wachsen und Gedeihen des Göttlichen im Menschen zu beschirmen.
»Nicht mein Wille geschehe, sondern der deinige,« mit diesem unter größter Seelenangst im Garten Gethsemane gesprochenen Worte Christi wird er zum leuchtenden Vorbilde für den hingebenden Gehorsam des Kindes in den Willen der Eltern. Dieses empfing seinen Leib aus dem Schooße der Mutter, verdankt das Erwachen seines Geistes und die Entwickelung aller ihm verliehenen körperlichen und seelischen Fähigkeiten der Mühe und Arbeit der Eltern; alles, was es ist, was es kann und was es hat, kam ihm von Vater und Mutter, sein Leben und Denken, Fühlen und Wollen ist mit dem ihrigen verbunden und verknüpft, und in Folge dessen beruht die innere und äußere Abhängigkeit des Kindes auf den einfachsten natürlichsten Gründen. Die Liebe zu den Eltern und die Achtung vor ihnen sind Naturgesetz und müssen sich ganz von selbst herausgestalten, und nirgends zeigt sich die Strafandrohung »bis in das dritte und vierte Glied« und die Segensverheißung »bis in das tausendste Glied« in solchem Umfange wie hier. Dies hat seine Ursache in dem Umstande, daß die Eigenschaften, welche sich gegen die Eltern erweisen, ihre Wurzeln in die Zeit der ersten, frühesten Jugend schlagen, auf das Eingehendste mit dem Leben, mit dem ganzen Wesen verwachsen und sich verschlingen und in Folge des elterlichen Einflusses auf Kind und Kindeskinder übergehen.
Es ist gefragt worden, woher es kommt, daß die Kinder so sehr oft gegen die Großeltern eine bedeutend größere Anhänglichkeit zeigen als gegen die Eltern. Dies hat zwei Gründe.
Selten wohl wird ein Elternpaar schon in den ersten Jahren der Ehe diejenigen Kenntnisse, Erfahrungen und Anschauungen besitzen, welche zur Kindererziehung nothwendig sind. Es kommen da gewöhnlich eine Menge Begehungs- und Unterlassungssünden, eine Zahl von Inconsequenzen vor, welche dem Kinde nicht unbemerkt bleiben, denn dieses hat grad’ für solche Fehler einen feinen Sinn und ein außerordentlich scharfes Auge. Bei den Großeltern dagegen ist die Hitze und Sanguinität der Jugend verflogen; sie sind ruhig geworden und haben sich gewöhnt, jede Handlung, jedes Wort reiflich zu erwägen und zu überlegen; diese Ruhe und Sicherheit leuchtet aus jedem ihrer Blicke, spricht aus jedem ihrer Worte, giebt sich in jeder ihrer Bewegungen, jeder ihrer Thaten kund und zwingt unwillkürlich und nothwendig zu herzlichem und unbeschränktem Vertrauen. Die Jugend gleicht dem gährenden Moste, das Alter dem goldenen, abgeklärten Weine, und dieses Gold der Ruhe und Ueberlegenheit ist es, was das Kindesherz gefangen nimmt in gläubiger und rückhaltsloser Hingabe. Das ist der eine Grund.
Wie wir überall im großen und kleinen, im ganzen und einzelnen Leben der Natur einen Kreislauf bemerken, der die Materie immer wieder zu ihrem
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