Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
ausgesprochensten Eigenthümlichkeiten, die sich gegenseitig anziehen und ergänzen. Die Gefühle des Mädchens sind zarterer Art, als diejenigen des Knaben, dagegen ist der Wille und die Energie des Letzteren mehr ausgeprägt und zuverlässiger als bei dem Ersteren; daher schließen beide sich leicht und gern an einander und äußern im innigen, geschwisterlichen Zusammenleben einen gegenseitigen äußerlichen und innerlichen Einfluß, der gar nicht hoch genug zu schätzen ist. Manche Schwester ist in Beziehung auf die Entwickelung des Herzens, der Umgangsformen etc. die eigentliche Lehrerin und Bildnerin des Bruders geworden und hat wiederum demselben die Selbständigkeit oder wenigstens den ihr eigenthümlichen »Schnitt« des Characters zu verdanken.
Bei diesem warmen Aneinanderschließen von Bruder und Schwester ist die Entwickelung einer Liebe, welche sich für das ganze Leben treu bleibt, sehr natürlich, und die Geschichte zeigt uns die Macht und Gewalt dieser reinen, aufopfernden Geschwisterliebe in zahlreichen und ergreifenden Beispielen. Das Zusammenleben mit dem Mädchen entwickelt in dem Knaben jene chevalereske Rücksicht, welche den Stürmischen zart und den rasch Auflodernden freundlich und höflich macht, und das Mädchen lernt sich in die Eigenthümlichkeiten des Andern einleben und eignet sich die feine Nachgiebigkeit an, durch welche später das Weib eine so große Herrschaft auszuüben vermag.
Anders nun freilich ist es, wo der Kreis der Geschwister ausschließlich nur aus Knaben oder Mädchen besteht. Die ganze körperliche und geistige Ausbildung verfolgt gleiche Ziele und läßt eine Concurrenz entstehen, welche gar leicht die Mutter des Neides, der Mißgunst, der Schadenfreude und des Hasses wird.
Bei Bruder und Schwester sind die Bedürfnisse verschiedene, und diese Verschiedenheit bildet sich desto mehr aus, je älter beide werden oder vielmehr, je mehr sie sich der Jünglings- und Jungfrauenzeit nähern; es steht also nicht Eins dem Andern hindernd in dem Wege. Brüder aber sehen sich immer unter einander in ihrem Interesse gekränkt und beleidigt, und andererseits kennt ja Jedermann die kleinen, aber zahlreichen Unliebsamkeiten, welche unter Schwestern auf dem täglichen Repertoire verzeichnet stehen.
Alles was die körperlichen Vorzüge betrifft und mit der Hervorhebung derselben in Verbindung steht, hat bei dem Mädchen, deren Zukunft nicht wenig von diesen Vorzügen abhängig ist, einen großen Werth. Hier liegt also auch der Punkt, an welchem die Eifersüchteleien von Schwestern am öftersten zusammenstoßen, und besonders ist es bei den niederen Ständen häufig zu beobachten, daß eine Schwester der andern eine gemachte Eroberung mißgönnt und ihr wohl gar als Nebenbuhlerin entgegentritt.
Hier ist es die Aufgabe der Eltern, durch sorgfältige und aufmerksame Herzensbildung allen Zerwürfnissen vorzubeugen, welche der geschwisterliche Egoismus in seinem Gefolge hat.
Eine wahre brüderliche und geschwisterliche Liebe ist etwas so Köstliches, daß Christus und die Apostel sie zum Bilde der christlichen Liebe genommen haben und man allezeit von Brüdern und Schwestern in Beziehung auf den Glauben sprechen wird.
Den eigentlichen Uebergang von der Verwandten-zur allgemeinen Nächsten- oder Menschenliebe bildet die Freundschaft, wie ja in der Sprache des Volkes das Wort »Freundschaft« sehr oft im Sinne der »Verwandtschaft« genommen wird.
Schon bei den Thieren bemerken wir ein Gefühl, welches die Individuen einander näher bringt und sogar in einzelnen Fällen die Feindseligkeit der Arten besiegt. Hund und Katze, Katze und Vogel sieht man öfters in friedlichem Zusammenleben bei einander, und sogar der Löwe im Käfig überwindet seinen Hunger oder wenigstens seine ursprüngliche Abneigung einem kleineren Wesen gegenüber, um in der Einsamkeit einen Gespielen zu haben, dem er seinen mächtigen Schutz gewähren kann.
Auch zwischen den Menschen und gewissen Thierarten besteht eine gewisse Freundschaft, welche aber von Seiten des Ersteren sehr aus der Rücksicht für den eigenen Nutzen entspringt. Die besten Freunde des Menschen im Thierreiche, die Hausthiere, sind zugleich auch Nutzthiere, und selbst da, wo es sich nur um Liebhabereien handelt, ist es doch nur die Unterhaltung, das persönliche Vergnügen, welches ihn veranlaßt, den »Herrn der Schöpfung« in einem freundlicheren Lichte als gewöhnlich erscheinen zu lassen.
Diese Selbstsucht ist es auch, welche, mehr
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