Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Freiheit der Stimmung ist theilweise abhängig von der Freiheit der Zeit, d.h. von der freien Verfügung über die dem Menschen zu Gebote stehende Zeit. Sie wird wesentlich beeinträchtigt durch angestrengte, angespannte, keine Umschau gestattende und aufgenöthigte Arbeit. Wo, wie in den Lebensläufen Unzähliger dies die Regel bildet, welche die Noth des Lebens erzwingt, wo von früh auf ein beschwerliches Arbeitsjoch den werdenden Menschen in abstumpfender Gleichmäßigkeit belastet, da bleibt oft kaum eine Spanne, ein Bruchtheil Zeit übrig, um der Seele Ruhe und Freiheit zu gönnen, daß sie sich der Liebe öffne. Kein Bruchtheil Zeit und kein Bruchtheil Stimmung! Freilich erzwingt der Naturtrieb, der Liebe letzter und mächtigster Hort, sich schließlich doch immer Geltung, aber das Ergebniß ist alsdann immer ein von der Ungunst der Verhältnisse mehr oder minder entstelltes. So treibt der Same, der zwischen Stein und Trümmer, zwischen ein kärgliches Erdreich fiel, wohl auch eine Pflanze hervor, aber ihre Blätter, die sie mühsam durch das Gerölle an das Tageslicht bringt, sind bestäubt und beschädigt, und ihr Wachsthum ist ein verkümmertes.
Eine in der Liebe mächtig und eigenthümlich eingreifende Auszeichnung der bevorzugten Classen ist es ferner, daß der ganze Inhalt einer verfeinerten und intellectuellen Cultur auf sie einwirkt. Unendlich Vieles ist ja hierin mit inbegriffen, alle feineren Strömungen geistigen und sinnlichen Lebens, geistigen und sinnlichen Genießens nehmen hier ihren Ursprung. Empfänglichkeit für das Schöne und Aneignung desselben auf allen Gebieten, auf denen der menschliche Geist sich eine thätige Werkstätte desselben geschaffen hat, ist nur durch sie ermöglicht. Musik, Gesang, Poesie, die darstellenden Künste, selbst sinniger Naturgenuß erschließen ihre Schätze nur Dem, dem ein gewisser Grad höherer intellectueller Cultur erreichbar war. Die Welt des Schönen um uns wird erst tönend und leuchtend, indem sie von einer Nervenreizbarkeit empfangen und wiedergeboren wird, welche sich ohne ein bestimmtes Maaß höherer geistiger Cultur nicht aneignen läßt. Eine Natur, deren Leben fast ohne jegliche Gehirncultur den äußersten Grad des Robusten und Festen erreicht, ist zwar für alle Witterungseinflüsse und ihre schädlichen Folgen unzugänglich, aber auch allen Einflüssen der feineren Sinnenreize so gut wie verschlossen. Gerade die zartesten Verbindungen zwischen Außenwelt und Innenwelt, zwischen den Schwingungen draußen um uns und den Erregungsmittelpunkten drinnen in uns, können nicht geschaffen werden, da die Leitungen dazu einfach nicht vorhanden sind. Und wie nahe berührt dies alles nicht das Gebiet der Liebe, welches aller Duft der Poesie zu verklären, alle Glorie der Künste zu erhöhen und zu schmücken beeifert und berufen sind. Reiner und glänzender strahlt ihr Bild, inniger und lebendiger wird ihr Pulsschlag empfunden, wo eine Seele, die dem Schönen sich erschlossen, ihr die Pforten öffnet, als wo ein Herz das ehrlich und brav, aber von Bildungseinflüssen wenig berührt, ihr eine Stätte bei sich bereitet.
Noch einen Punkt giebt es, der im Gegensatze zu der oben berührten Seite das materielle Uebergewicht der besitzenden Classen betrifft. Schon bei den Alten galt der Spruch: sine Cerere et Libero friget Venus, die Liebe ist der eigentlichen Dürftigkeit nicht hold. Flieht sie das schwelgerische Wesen und den Luxus der Paläste, so sitzt sie doch auch nicht gern vor leeren Schüsseln, und wo Schmalhans Küchenmeister ist und die Noth zum Fenster hereinschaut, da wird ihr unheimlich, sie macht sich davon und sucht sich einen trauteren Aufenthalt. Nun sind die besitzenden Classen vor dieser Extremität geschützt. Das Darben kommt bei ihnen nicht vor, sie sind also insofern jedenfalls denjenigen Classen der Bevölkerung auch hinsichtlich der Liebe überlegen, welche vor der Noth des Lebens sich nur mühsam und unzulänglich schützen können. Kommt diese Ueberlegenheit ihnen gleich wohl nicht zu Gute, verwandelt sich durch Mißbrauch der Segen wieder in Fluch, so hat das hier, wo es sich zunächst nur um die realen, der Möglichkeit nach verfügbaren Mittel handelt, außer Betracht zu bleiben.
Natürlich ließe sich leicht auch eine Gegenrechnung aufstellen, und wenn es sich darum handelte, den sittlichen Gehalt der höheren Classen der Gesellschaft nach ihrer Befähigung, die Liebe im Leben zu gestalten, abzuschätzen, so ließe sich
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