Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Gesellschaft und Personen, die ebenso leicht an Vorurtheilen und leider häufig auch an Ueberzeugungen, als schwer am Materialismus der Genußsucht zu tragen haben.
Es existirt ein psychologischer Zusammenhang, der sich meines Erachtens gar nicht verkennen läßt, obwohl er wenig beachtet wird, zwischen den hier erörterten Beziehungen und der Cameliendamen-Literatur, deren Blüthe wir alle erlebt haben. Diese Literatur, so spezifisch französisch sie ist, so individuell sie außerdem ihrem geistigen Vater angehört, ist doch gleichzeitig eine signatura temporis und muß in diesem Lichte betrachtet werden. Sie enthält – von allen Redensarten abgesehen, welche der herkömmlichen Moral, dem Anstande, gewissen Schicklichkeitsrücksichten etc. zu Liebe gemacht werden und die eben nur Redensarten sind – nur Eins, was ihr spezifisch eigenthümlich ist oder vielmehr ihren Kern bildet: die Apotheose des gesunkenen Weibes. Und der langen Reden, welche bei Gelegenheit solcher Apotheosen gehalten werden, kurzer Sinn ist immer: »Es ist wahr, dieses Weib ist gesunken, sie hat zügellos ausgeschweift, sie hat die Sitte beleidigt und mit Füßen getreten, sie hat excentrisch geschwelgt, aber sie liebt gleichwohl, sie kann lieben. Berührt von der Liebe, an die sie selbst nicht mehr glaubte, stößt sie die Pracht, in der sie lebte, weit von sich… sie ist eine poetische Erscheinung.« Und grad’ hier liegt das Verbindungsglied mit dem Materialismus der Gesellschaft. Ich vermeide, über dieses Thema weitläufig zu werden und in Untersuchungen über die Verzerrung, welche das Poetisch-Reine durch seine Einsenkung in unreine Lebensverhältnisse erleidet, einzugehen. Aber zu bestreiten scheint mir nicht, worauf es mir zunächst ankam, daß, je unpoetischer das Weib in der Gesellschaft wird, desto mehr dem Verzerrt-Poetischen eine Folie erwächst, welche dasselbe emporhebt.
Dieser Hebel wird nicht zu übersehen sein, wenn wir verstehen wollen, warum grade jetzt mehr wie in früheren Zeiten ein literarischer und Bühnenerfolg der gedachten Art ermöglicht war. Daß andere Momente außerdem bedingend eingreifen, wird damit natürlich nicht in Abrede gestellt, aber unsere Untersuchung hat sich auf diese nicht einzulassen.
Treten wir aus diesem niederen Dunstkreis heraus und richten wir unsern geistigen Blick noch einmal auf die Lichterscheinung, deren unveränderliches, wenn auch oft nur in schwachen Linien angedeutetes Wesen wir zu erkennen uns bemühten. Geboren von dem Drange des organischen Werdens, tritt die Liebe als sehnendes Verlangen in des Menschen Leben; sie erschafft sich ein Ideal, mit dem in Eins verbunden zu werden, der Traum ihrer Träume ist; sie erhält in der Gegenliebe die äußerste Beseligung; sie schaut voll reiner Empfindung des höchsten Entzückens in das Himmelreich eines Glückes, in dessen Anschauen ihr alle irdische Umgebung verwandelt erscheint und das eigenste Wesen des Menschen den flammenden Liebesopfertod ersehnt. Die Liebe ist ungelehrt und ungelehrig. Sie kennt nur den einen Artikel ihres kurzen Glaubensbekenntnisses und weiß und begreift nichts von einer Pflichtenlehre. Bei dem leisesten Versuche eines Zwanges entflieht sie, freiwillig aber gewährt sie ohne Rückhalt Alles, was sie besitzt. Die Liebe ist herrisch, wo ihre Kraft herausgefordert wird, und sie wohnt nicht in einer Seele, welcher durch Naturanlage solche Kraft nicht eigen ist oder der sie im Wohlleben versiechte, aber ihr eigenstes Wesen ist doch: selige Ruhe, selige Selbstgenüge, tiefste Befriedigung, die wie ein kraftvoller Athemzug in reiner Luft den ganzen Menschen, Leib und Seele, im innersten Grunde des Seins ernährt und erquickt. Welchem Menschenkinde sie fehlt, dem kann nicht der Ausruf gelten: »ich habe gelebt,« denn die Liebe ist eben das Leben, ohne ihr ist das Letztere nicht möglich, und da sich in der Liebe der Geschlechter der beglückende und beseligende Einfluß der göttlichen Himmelskraft am deutlichsten zeigt, so giebt es wohl keine größere Entsagung, als das Verzichten auf diese Liebe oder die Entbehrung jener Zuneigung, welche Mann und Weib wie für Ewigkeiten vereinigt. Das ist es, was der englische Dichter Toulmin so ergreifend in seinem »Blinden Mädchen« schildert:
‘S ist nicht, weil ich die Vögelein,
Die Blumen nicht kann seh’n,
‘S ist nicht, weil ird’sche Schönheit mir
Ein traumhaft Phänomen;
Nicht, weil verschlossen mir der Raum
Des Himmels blau und rein,
Des
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