Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
einmal durch den zahnlosen Mund einer alten, wahrsagenden Hexe oder Zigeunerin einen scheuen Blick hinunterwerfen in die Tiefen, in welchen an dem Zwecke ihres Daseins herumgekocht und gebrodelt wird, und nehmen glücklicher Weise als Gegengeschenk für das verabreichte Trinkgeld die unvermeidliche Versicherung mit, daß am Rande des Abgrundes, nämlich auf der vorletzten Seite des zwölften Bandes, ein pflichteifriger Deus ex machina die Guten aus einer Hölle von Unglück und Qual in einen Himmel von Glück und Seligkeit emporschleudern werde, während die Bösen natürlich den umgekehrten Weg machen müssen.
Der Leser ist entzückt; er hat die Gegenwart vergessen und schwimmt auf den luftigen, trügerischen Wogen der ihm vorgezauberten Fata morgana. Er gehört unter jene Helden, er nimmt Theil an ihrem Glücke und berauscht sich an dem Nektar ihrer Seligkeit. Aber bei den unheilvollen Worten »Ende des letzten Bandes« erwacht er aus diesem Rausche. Halb noch träumend, halb schon wachend reibt er sich die Augen und möchte an das Jetzt nicht glauben. Aber die eherne Faust der Wirklichkeit reißt ihn gewaltsam und ohne Erbarmen empor und stürzt ihn in den Kampf des Daseins, in welchem er sich die Mittel zur Befriedigung der kleinlichen, unromantischen Bedürfnisse des nackten Lebens erringen soll. Hier hilft kein Träumen, sondern hier giebt es Arbeit und Arbeit und immer wieder Arbeit. Er arbeitet auch; denn er muß; aber wie balde, wie oft sinkt sein Arm, um der Phantasie Zeit und Raum zu glänzenden Luftschlössern zu geben. Er hat falsche Lebensanschauungen eingesogen und nach und nach die innere Kraft verloren, die Anforderungen der Alltäglichkeit zu erkennen und ihnen gerecht zu werden. Die Verhältnisse, in denen er sich befindet, vermögen nicht, ihn zu befriedigen, und so geht er in die Leihbibliothek, um sich eine neue Dosis Opium zu holen, und aus einem neuen Buche die Lethe der Vergessenheit zu trinken. Durch das viele Lesen von dem Umgange mit Andern abgeschlossen, hält er sich in Folge seiner vermeintlichen großen Belesenheit und Bildung für besser und unterrichteter als diese und wird somit auch dem sanftesten Worte der Belehrung und Warnung immer unzugänglicher. Und noch Eins: Die weibliche Leserin sieht in jenen Romanen ihr Geschlecht von zarter Minne umwoben, von kühnen Männern umschwärmt und in süßen Liedern vergöttert. Die Helden sind ausgestorben; die Lieder sind verklungen; aber die Liebe, die stirbt und verklingt nimmer. An dieser hält sie sich fest; träumerisch hinschmachtend wartet sie auf ihren Ritter, und wenn er endlich erscheint, so umgiebt sie selbst ihn mit jenem Nimbus, in welchem er ihrem Seelenfrieden, ihrem Glücke gefährlich zu werden vermag, und wie viele, wie so sehr viele solcher vertrauenden Seelen giebt es doch, die in Folge dieser Selbsttäuschung nur durch traurige Erfahrungen zu der Erkenntniß gezwungen worden sind, daß auch die Zeit der Burgfräuleins vorüber sei! –
Es ist eine der Hauptaufgaben des Romanschriftstellers, den sittlichen Gehalt seiner Personen genau abzuwägen und in die Tiefen ihres Seelenlebens einzudringen, um die successive Entwickelung ihres Characters zur anschaulichen Darstellung zu bringen. Seine Beispiele des Guten müssen als Vorbilder, und seine Beispiele des Bösen zur Abschreckung dienen; der Leser muß sich also in seinem eignen Innern gepackt und ergriffen fühlen und alle Phasen des geschilderten Bildungsganges mit erleben. Licht und Schatten müssen deshalb sorgfältig vertheilt und alle Extreme vermieden werden, damit die Lösung dieser Aufgabe nicht an der Unmöglichkeit der vorgeführten Bilder scheidere. Hierzu muß freilich vor allen Dingen der Verfasser selbst von dem rechten sittlichen Ernste durchdrungen und sowohl mit einer nicht blos oberflächlichen Menschenkenntniß, als auch einer glücklichen Darstellungsgabe versehen sein. Aber bei wie vielen Büchern der uns vorliegenden Art sind diese Bedingungen erfüllt? Der Verfasser füllt eine größere oder geringere Anzahl von Persönlichkeiten und Begebenheiten auf die Flasche, verkorkt dieselbe mit seiner berühmten Benamsung und klebt irgend eine Reclame machende Etiquette darauf. Jetzt ist das große Werk vollbracht, und Psychologie ist ihm die Krankheit, welche er schon in seinen Knabenjahren mit den Masern und dem Kinderfriesel glücklich überwunden hat. Die höchste Genugthuung gewährt es ihm, wenn es ihm gelungen ist, seine Leser zum »Gruseln«
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