Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Menschenfreund jedenfalls schon der einzelne Fall hinreichend, seine Aufmerksamkeit und Theilnahme zu erregen. Wer einmal Gift aus solchen Büchern gesogen hat, für den verwandelt sich leicht auch der Inhalt eines guten Buches in Gift, und moralisch werthlos bleibt sein Leben selbst dann, wenn er die Schranken des Gesetzes, welche er in seinem Innern anzufeinden gelernt hat, äußerlich respectirt. –
Während die Wahrheit des Letztbehaupteten nur bei eingehenderem Nachdenken zu bemerken ist, bedarf es nur eines Fingerzeiges zu der Ueberzeugung, daß das Lesen von Hexen-, Geister- und Gespenstergeschichten dem Aberglauben bedeutenden Vorschub leiste, und ich darf mich deshalb füglich mit der bloßen Erwähnung dieser Thatsache begnügen. Weniger in das Auge fallend aber ist ein Anderes.
Die Schablone, durch welche der Stoff der allermeisten dieser Romane gequetscht worden ist, heißt:
»Sie sahen sich, sie liebten sich und sollten sich nicht bekommen;
Sie liebten sich, sie sahen sich und haben sich endlich genommen.«
Dieses Bekommen und Genommen ist der Endzweck der ganzen Hetzjagd, ist des Pudels Kern, ist der Punkt, auf welchen sich alles zuspitzt. Der tapfere Jüngling erblickt die sittige Jungfrau – und sie natürlich auch ihn. Der tapfere Jüngling liebt die sittige Jungfrau – und sie natürlich wieder auch ihn. Aber der tapfere Jüngling soll die sittige Jungfrau nicht bekommen – und sie natürlich auch ihn nicht. Da fühlt er einen wüthenden Ingrimm über die Schlechtigkeit des ganzen Menschengeschlechtes und sprengt mit verhängtem Zügel zum Burgthore hinaus, um alle Riesen, Drachen, Geister und Ungeheuer todt zu schlagen, ihnen ihre Schätze abzunehmen und dann die sittige Jungfrau heimzuführen. Oder er schleicht sich bei nächtlicher Weile mit seinem Saitenspiele unter das Fenster der Holden und singt:
»Ade du meine Seligkeit,
Ade ihr falschen Weiber.
Mich zwickt und drückt des Herzens Leid;
Drum werde ich ein Räuber!«
Er flieht in des Waldes düstere Gründe, übt sich so viel wie möglich im Handwerke und bricht nach einigen Jahren als gefürchteter Räuberhauptmann hervor, um Alles, was ihm in den Weg kommt, seiner Rache aufzuopfern. Die geschlechtliche Liebe dominirt das Leben in allen seinen Erscheinungen und Gestaltungen. Unter ihrer Macht muß sich alles Andere beugen; kräftige Selbstbeherrschung, edle Verzichtleistung ist eines mannhaften Ritters unwürdig, und die freundliche Fee, welche über die Erde wandelt, um die Herzen in heiliger Sympathie zu einen, wird gezwungen, die Göttin des Hasses, die Beschützerin des Bösen und die Schirmherrin menschlicher Begierden zu sein. So steigt die Liebe von der schimmernden Burg herab in die feuchtkalten Schatten des Thales; sie schleicht um die Ecken; sie drückt sich in die Winkel, bis sie, das häßliche gewordene Angesicht verhüllend, ihren Fall beweint und im Kothe der Sünde untergeht. Und der Leser? Er geht mit ihr; er schleicht mit ihr; er fällt und sinkt auch mit ihr. Die höheren Zwecke des Lebens sind seinem Auge entrückt worden; nur Liebe und Erhörung sucht er; der Gedanke an sie begleitet ihn zur Arbeit und zur Ruhe, macht ihn vor der Zeit reif und durchdringt sein ganzes Denken und Sinnen. So wird er ein Sclave zerrüttender erotischer Gefühle, bringt ihnen diejenige Zeit seines Lebens, welche dem energischen Ringen nach einer gesicherten Lebensstellung gewidmet sein sollte, zum Opfer und verschwendet die Kräfte seines Körpers und Geistes in Vergnügungen, die er von der Zukunft erwarten und auch dann nur in den Stunden der Erholung suchen sollte. Und findet er die Befriedigung, die so Verderben bringend ist, weil sie immer neues und heftigeres Bedürfniß erweckt, nicht auf gesellschaftlichen Wege, so zieht er sich in die Einsamkeit zurück und wird von den üppigen Bildern seiner überreizten Phantasie zur Anwendung jenes geheimen und unheilvollen Giftes getrieben, welches so zerstörend auf die körperliche und moralische Gesundheit unserer jetzigen Jugend wirkt und dem wir den Mitleid erregenden Anblick so vieler greisen Jünglinge und Jungfrauen verdanken. Wollten diese Beklagenswerthen unsre Fragen offen und ehrlich beantworten, so würden wir erfahren, daß weitaus die Meisten von ihnen die Nahrung für ihre nur in der Verborgenheit zu befriedigenden Leidenschaften aus denjenigen Büchern nehmen, vor welchen zu warnen die Aufgabe dieses Aufsatzes ist, und jeder Vater und Erzieher wird
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