Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
Schöpfung sei, wir haben gesehen und erfahren, daß der Schritt von einer Daseinsform bis zur anderen nicht in einem raschen Sprunge, sondern in einer Jahrtausende beanspruchenden Entwickelung bestehe, und so ist es nicht anders möglich, als daß das Ziel, zu welchem unser Schritt in die Zukunft führt, uns so langsam näher rückt, daß der ungeduldige menschliche Sinn nicht nur an seiner Erreichnung verzweifelt, sondern dieses Ziel selbst gar in Frage stellt. Aber wenn der Geist so stofflos ist wie der Gedanke, ja – wenn der Gedanke nichts Anderes ist als der Geist in seinem eigensten Wesen, wenn in Folge dessen dieser Geist schon während seines Wohnens im irdischen Körper Ausflüge in die entferntesten Räume des Weltenalls unternimmt, wie sollte es da unmöglich sein, daß ihn seine Bestimmung emporführt von Stern zu Stern, von Welt zu Welt, von Himmel zu Himmel, nachdem der Körper in den Staub gesunken ist, von welchem er entlehnt war?
Und wenn schon das irdische Dasein den einen großen Zweck hatte, die Liebe zu predigen, den Frieden zu erringen, so dürfen wohl am Eingange zu jenen Reichen die beseligenden Worte erglänzen: »Kommt her, ihr Gesegneten; ererbet das Reich, welches Euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!« Und dieses Reich, es wird ein Reich der Liebe sein; aller Zwist und Streit, aller Haß und Zorn des Erdenlebens ist zurückgeblieben, in himmlischer Eintracht verfolgen die Geister ihre Bahnen, mit jeder Schwingung ihrer Flügel größere Seligkeit und höheres Entzücken empfindend; die Ruhe in Gott, sie ist errungen, aber sie ist keine Unthätigkeit, sondern sie gleicht dem Oceane, in welchem Myriaden von Geschöpfen sich bewegen, dem Oceane, der, ohne Anfang und ohne Ende, immer von Neuem geboren wird:
»Die Liebe höret nimmer auf!«
Ein wohlgemeintes Wor t
»Die Sünde wird immer mächtiger!« klagt der Prediger auf der Kanzel. »Die moralischen Krebsschäden der Gegenwart fressen sich immer tiefer ein in das Geschlecht der Menschen!« ruft der Philosoph vom Katheder herab. »Bei der Entwickelung des innern Menschen scheint oft das Böse größere Fortschritte zu machen als das Gute!« bemerkt der aufmerksame Pädagog. »Die Zahl der Verbrechen steigt, und das Raffinement wird fast beängstigend!« spricht der Richter, und »Baut neue Zuchthäuser; die bisherigen reichen nicht mehr zu!« respontirt ihm der Strafanstaltsbeamte. Die Eltern klagen über ihre Kinder, die Lehrer über ihre Schüler, die Lehrherren über ihre Lehrlinge, der Meister über seinen Gesellen, der Fabrikant über seine Arbeiter. Und der Menschenfreund?
Dieser kann und mag nicht glauben, daß die Schatten der Nacht dem hellen, belebenden Strahle des Tages Stand zu halten vermögen; aber er erkennt in vielen, in sehr vielen Fällen die Berechtigung zu diesen Klagen an, und seine stets rege Theilnahme veranlaßt ihn zum Nachdenken über die Ursachen derjenigen Krankheiten, an welchen der gesellschaftliche Körper leidet. Freilich ist die Gabe, in gelehrter, scharfsinniger und eingehender Abhandlung diesen wichtigen Gegenstand zu erschöpfen, wohl nur wenigen Auserwählten verliehen; aber es ist die Pflicht eines jeden wohldenkenden Menschen, auch Andere an den Erfahrungen, welche er in seinem Kreise gemacht hat, Theil nehmen zu lassen, und so das Seinige beizutragen zum großen Werke der Besserung. Auch das Kleinste und scheinbar Unbedeutendste ist hier von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, und wenn ich um die Erlaubniß bitte, heut’ auf so ein Kleines aufmerksam machen zu dürfen, so geschieht es in der Ueberzeugung, daß gar mancher Freund des Kalendermannes Aehnliches erfahren und Aehnliches gedacht hat und also meinem wohlmeinenden Worte seine Zustimmung nicht versagen wird.
Einer der Haupthebel, welche bei der Volkserziehung in Bewegung gesetzt werden müssen, sind jedenfalls die Bibliotheken, und bei einsichtsvoller Leitung und einer guten, verständigen Wahl der Bücher ist ihr Einfluß ein unberechenbar günstiger. Aber auch ebenso sehr schädlich ist die Wirkung einer aus schlechten Werken zusammengesetzten und von einer nur den eignen pecuniären Vortheil verfolgenden Hand geleiteten Bibliothek, und wenn wir in dieser Beziehung von unsern großen und öffentlichen Büchersammlungen nur Lobendes zu sagen haben, so lassen dagegen die im Privatbesitze befindlichen Bibliotheken viel, oft sehr viel zu wünschen übrig.
Die politische Körperschaft (Staat, Gemeinde etc.) verfolgt
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