Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
Liede schon wieder zu Ende war, ehe noch der Kaffeekellner auf das ihm eingehändigte Viergroschenstück sein schlechtes Zweigroschenstück – mit dem Braunschweiger Pferde oben – herausgegeben hatte. Darunter hatte denn auch Storm zu leiden; er kam zu keiner Geltung, weil er sowohl wie das, was er vortrug, für Lokal und Menschen nicht kräftig genug gestimmt war. Er fühlte das auch und nahm einen Anlauf, sich à tout prix zur Geltung zu bringen, versah es aber damit gänzlich. Er hatte kein rechtes Glück bei uns. Irgendwer hatte ein Gedicht vorgelesen, in dem eine verbrecherische Liebe zwischen Bruder und Schwester behandelt wurde. Man fand es mit Recht verfehlt, am verfehltesten aber fand es der mitkritisierende Storm, der, als er sein Urteil abgeben sollte, des weiteren ausführte, daß vor allem »die schwüle Stimmung« darin fehle. »Nun, Tannhäuser«, so rief man ihm zu, »dann machen Sie’s doch.« Und Storm war auch wirklich dazu bereit und erschien vierzehn Tage später mit dem von ihm zugesagten Gedicht »Geschwisterliebe«, aber nur, um einen totalen Abfall zu erleben. »Ja,« hieß es, »Ihr Gedicht ist freilich besser, aber zugleich auch viel schlechter; die ›schwüle Stimmung‹, von der Sie sprachen, die haben Sie herausgebracht; aber es wird einem ganz himmelangst dabei.« Dies Urteil war, glaub’ ich, richtig; Storm selbst empfand auch etwas der Art und bastelte noch daran herum, suchte sich sogar in Gesprächen und Briefen zu verteidigen. Aber ohne rechten Erfolg. Einer dieser Briefe richtete sich an mich.
»Erschrecken Sie nicht,« so schrieb er mir, »daß ich noch einmal auf meine Ballada incestuosa zurückkomme.
Jede Sitte , worunter wir an sich nur ein äußerlich allgemein Geltendes und Beobachtetes verstehen, hat ein inneres, reelles Fundament , wodurch dieselbe ihre Berechtigung erhält. Die Sitte – denn mit den rechtlichen Verboten in dieser Beziehung haben wir es hier nicht zu tun –, daß Schwester und Bruder sich nicht vereinigen dürfen, beruht auf der mit übereinstimmenden Natureinrichtung, welche in der Regel diesen Trieb versagt hat. Wo nun aber, im einzelnen Falle, dieser Trieb vorhanden ist, da fehlt auch, eben für diesen einzelnen Fall, der Sitte das Fundament, und der einzelne kann sich der allgemeinen Sitte gegenüber, oder vielmehr ihr entgegen, zu einem Ausnahmefall berechtigt fühlen. Daß er nun sein natürliches Recht, nachdem er es vergebens mit der Sitte in Einklang zu bringen versucht hat, kühn gegen all das Verderben eintauscht, was der Brauch und das Allgemeingültige über ihn bringen muß, das ist das , was ich als den poetischen Schwerpunkt empfunden habe. Gleichwohl habe ich für Sie einen neuen Schluß zurechtgemacht, der freilich christlich ebensowenig passieren darf wie der andere. Hier ist er…«
Storm ließ diesen neuen Schluß nun folgen, und in dieser etwas veränderten Gestalt ist die Ballada incestuosa auch in seine Gedichte übergegangen. Es ist aber, trotz all dieser Mühen, eine vergleichsweise schwache Leistung geblieben, wie sich jeder, der die Gedichte zur Hand hat, leicht überzeugen kann.
Storm blieb Mitglied. Aber er kam nicht mehr oder sehr selten. Er mußte sich gesellschaftlich von vornherein geborgen fühlen, sonst schwenkte er ab.
Seine Tunnel-Schicksale hatten sich nicht sehr günstig gestaltet, freilich auch nicht schlimm. Schlimmer war es, daß es auch mit Kugler zu einer Verstimmung kam. Ohne rechte Schuld auf der einen und der anderen Seite. Wir saßen eines Tages zu vier oder fünf in einem Tiergartenlokal, in einem von Pfeifenkraut und Jelängerjelieber umrankten Pavillon, und da sich’s fügte, daß kurz vorher ein neues Buch von Geibel erschienen war, so nahm Storm Veranlassung, über seinen Konkurrenten Geibel sein Herz auszuschütten. »Ja, Geibel. Das ist alles ganz gut. Aber was haben wir schließlich? Wohlklang, Geschmack, gefällige Reime – von eigentlicher Lyrik aber kann kaum die Rede sein und von Liebeslyrik nun schon ganz gewiß nicht. Liebeslyrik, da muß alles latente Leidenschaft sein, alles nur angedeutet und doch machtvoll, alles in einem Dunkel, und mit einemmal ein uns blendender Blitz, der uns, je nachdem, erschreckt oder entzückt.« Kugler wurde unruhig. Zum Unglück fuhr Storm fort: »In zwei Strophen von mir…« und nun wollte er an einem seiner eigenen Gedichte zeigen, wie echte Liebeslyrik beschaffen sein müsse. Aber er kam nicht dazu. »Nein, lieber Storm,« unterbrach Kugler,
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