Delphi sehen und sterben
und machten immer weiter, selbst als offensichtlich niemand mehr zuhörte.
Die klanglosen kaiserlichen Tonfolgen bildeten einen unwirklichen Hintergrund, vermischt mit dem Rauch eines nun hochaufgeschichteten Scheiterhaufens, auf dem die Köche einen gewaltigen Hai braten wollten. Der war von Phineus gespendet worden, ein Geschenk an seine Kunden für ihr Abschiedsbankett in Griechenland. Die hängenden Lampen und das Licht des Feuers sorgten für einen warmen Schein. Auch Polystratus hatte ein Hauptgericht beigesteuert. Seine Spende kam in einem großen Bronzekessel, in dem dunkle Soße um einen gepökelten Schweinefleischeintopf blubberte. Zusätzlich gab es ganze Zicklein vom Spieß. Der Duft typischer mediterraner Gewürze drang uns in die Nase: Oregano, Rosmarin, Salbei und Selleriesamen.
Während wir darauf warteten, dass der nächste Gang aufgetischt wurde, beugte sich Helena zu mir. Sie deutete auf den Brief, den Aulus bei seiner Ankunft mitgebracht hatte. »Mutter!«
Ich täuschte Entzücken vor. »Was schreibt die liebe Julia Justa denn?« Helena schwieg. Furcht ergriff mich. »Ist was mit den Kindern?«
Helena tätschelte meine Hand. »Nein, nein. Sie reißen das Haus in Stücke und vermissen uns nicht.«
»Überhaupt nicht?«
»Nicht sehr.«
»Tja, ich vermisse sie.« Aulus, der unser Gespräch mitbekommen hatte, rückte näher. Er wechselte einen Blick mit seiner Schwester. Aulus musste wissen, was in dem Brief stand. Ich vermutete das Schlimmste. »Du willst mir etwas verheimlichen!«
Helena runzelte die Stirn. Sie schien über etwas erbost zu sein. »In dem Brief geht es bloß um die neuesten Nachrichten vom Forum. Zum Beispiel schreibt Mutter, dass der hochverehrte Rutilius Gallicus nach seiner Amtsperiode als Statthalter von Germanien nach Rom zurückkehrt …« Ich war mit Gallicus bekannt – Konsul, Gesetzgeber und mittelmäßiger Dichter wie ich –, und Germanien war mir durchaus nicht fremd. »Jeder verheimlicht etwas, nicht wahr?« Helenas Ton hatte eine unheilvolle Bedeutsamkeit. »Sag mir, Marcus, Liebling, was ist damals in dem Wald passiert, als du und mein Bruder Quintus den Fluss nach Germania Libera überquert habt? Als ihr gemeinsam ein Abenteuer erlebtet, über das bis zum heutigen Tage keiner von euch beiden spricht?«
Ich hatte ihr das meiste davon erzählt. Vielleicht nicht genug. Was da passierte, war äußerst gefährlich gewesen. Dazu hatte auch eine Rebellenprophetin namens Veleda gehört, deren Wirkung auf den damals noch jungen Camillus Justinus erklärte, warum keiner von uns nach der Heimkehr je das Schweigen gebrochen hatte.
Helena streckte die Hand aus und schenkte sich noch Wein ein. Sie wusste mehr über unsere Eskapade in Germanien, als sie je zugegeben hatte. »Rutilius Gallicus hat Veleda gefangen genommen. Er bringt sie im Triumph mit nach Rom.«
Mit einem plötzlichen Stechen wurde mir klar, was das für Justinus bedeutete. Er hatte Veleda nie vergessen. Die erste Liebe hatte ihn hart getroffen. Die Seherin war fremdländisch, exotisch, mächtig und wunderschön gewesen. Das Beste an ihr war, dass keiner von uns erwartet hatte, sie je wiederzusehen.
Ich nickte ihrem Bruder zu. »Aulus, lass mich raten. Deine Mutter hat ihre Anweisungen geändert. Sie will, dass wir nach Hause kommen.«
LXIII
Mich erfasste ein Gefühl des Versagens, das schwer abzuschütteln war. Ich schob meinen Wein weg; er war keine Hilfe. Minas’ Annahme, dieser Abend würde die Lösung bringen, war falsch. Gleich würde der Hauptgang aufgetragen werden. Dann würden die Serviertische für Obst und Käse abgeräumt werden. Danach war alles vorbei. Es würde kein Drama geben. Ganz zu schweigen von einem Gerichtsverfahren. Der Abend würde sich sinnlos hinziehen, bis wir alle halb eingeschlafen waren, dann würde ich meine kleine Gruppe um mich scharen und zurück nach Athen fahren. Helena und ich würden, vielleicht zusammen mit Aulus, so bald wie möglich eine Überfahrt nach Westen buchen. Die Sieben-Stätten-Gruppe würde morgen nach Osten reisen, die Verbrechen unaufgeklärt, der Mörder auf freiem Fuß, Gerechtigkeit für immer verweigert.
Ich war so nahe dran gewesen. Die Wahrheit zu wissen reichte nicht aus. Ich musste es beweisen. Nur waren keine handfesten Beweise aufgetaucht, und ich konnte den Fall nicht zu Ende bringen.
Polystratus und Phineus bereiteten ihre Spenden selber zu; Sieben-Stätten-Reisen sparte stets, wo es nur möglich war. Phineus hatte seine
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