Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
schon wieder jemand, der mich liebhat«, schluchzte Milly leise.
»Ich hätte Ihnen gestern abend nicht entgegentreten mögen, und wärs auch nur um ein Stück Brot gewesen, aber heute ist die Erinnerung an alte Zeiten so heftig und überwältigend in mir aufgewacht, daß ich es doch gewagt habe, auf ihren Rat hierherzukommen und Ihr Geschenk anzunehmen und Ihnen dafür zu danken und Sie zu bitten, Redlaw, seien Sie in Ihrer Sterbestunde so großmütig zu mir in Gedanken wie jetzt in Ihren Taten.«
Er wandte sich zur Türe, blieb aber noch einmal stehen.
»Schenken Sie meinem Sohn Ihre Teilnahme um seiner Mutter willen, ich hoffe, er wird dessen würdig sein. Und wenn ich nicht sehr lange lebe und nicht bestimmt weiß, daß ich Ihre Hilfe nicht mißbraucht habe, werde ich ihn nicht wiedersehen.« In der Tür blickte er zum erstenmal zu Redlaw auf. Der Chemiker, dessen Blicke starr auf ihn gerichtet waren, hielt ihm die Hände hin wie im Traum. Langford kehrte um, berührte sie – es war wenig mehr – mit seinen beiden Händen, dann schritt er gesenkten Hauptes langsam hinaus. In den wenigen Minuten, die verstrichen, während ihn Milly schweigend zum Tor begleitete, sank der Chemiker in den Lehnstuhl und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Sie bemerkte dies, als sie in Begleitung ihres Mannes und des Alten, die ihn beide innig bedauerten, zurückkehrte, und trug Sorge, daß ihn niemand störe, und kniete nieder, um dem Knaben warme Kleider anzulegen.
»Ich sag’s immer, Vater«, rief Swidger voll Bewunderung aus, »es wohnt ein Muttergefühl in Mrs. Williams Brust, das heraus will und muß.«
»Ja, ja«, sagte der Alte, »du hast recht! Mein Sohn William hat recht.«
»Es mag wohl für uns das beste sein, liebe Milly«, sagte Mr. William zärtlich, »daß wir selber keine Kinder haben, und doch wünschte ich manchmal, du hättest eins, um es recht liebhaben und hegen zu können. Der Tod unseres kleinen, lieben Kindes, auf das du solche Hoffnungen setztest und das niemals die Luft des Lebens geatmet, hat dich so still gemacht, Milly.«
»Die Erinnerung an das Kind macht mich sehr glücklich, William«, gab sie zur Antwort. »Ich gedenke seiner jeden Tag!«
»Ich fürchte, du denkst sehr viel daran.«
»Sage nicht, du fürchtest. Es ist ein Trost für mich; es spricht zu mir in so mannigfacher Weise. Das unschuldige Ding, das nie auf Erden gelebt hat, ist für mich wie ein Engel, William.«
»Und du bist ein Engel für mich und meinen Vater«, sagte Mr. William leise, »so viel weiß ich.«
»Wenn ich an alle die Hoffnungen dachte, die ich auf das Kind baute, und wievielmal ich dasaß und mir das kleine lächelnde Gesichtchen an meiner Brust ausmalte und die lieben Augen, die sich nie dem Licht geöffnet, mir zugewandt vorstellte, da gab mir diese Selbsttäuschung immer noch mehr Milde und Ruhe für die erlittene Enttäuschung. Wenn ich ein schönes Kind in den Armen einer glücklichen Mutter sehe, dann hab’ ich es um so lieber bei dem Gedanken, mein Kind hätte auch so sein können und hätte mein Herz ebenso stolz und glücklich machen können.«
Redlaw hob den Kopf und sah sich nach ihr um.
»Für das ganze Leben scheint es mir eine Lehre zu geben«, sprach sie weiter, »für arme, verlassene Kinder bittet mein kleines Kind, als wäre es lebendig und hätte eine Stimme und spräche mit mir wohlbekannter Stimme zu mir. Wenn ich von Jugend und Krankheit oder Elend höre, dann denke ich, daß es vielleicht mit meinem Kinde auch hätte so gehen können und daß es Gott aus Barmherzigkeit von mir genommen hat. Selbst im weißhaarigen Alter spricht es zu mir in seiner Art. Vielleicht hätte es die Achtung und die Liebe der Jüngern entbehren müssen, wenn du und ich längst gestorben wären.«
Ihre ruhige Stimme war ruhevoller als je. Sie ergriff den Arm ihres Mannes und legte ihren Kopf darauf.
»Kinder lieben mich so sehr, daß ich mir manchmal einbilde – es ist eine törichte Einbildung, William –, sie fühlten auf eine mir unbekannte Weise mit meinem kleinen Kind und mir und verständen, warum mir ihre Liebe so kostbar ist. Wenn ich seit jener Zeit stiller bin, so bin ich auch glücklicher in hundertfach anderer Art, William – nicht am wenigsten glücklich darin, daß, selbst damals, als mein Kind erst wenige Tage geboren und schon gestorben und ich noch schwach und betrübt war und nicht anders konnte als jammern und klagen, mir der Gedanke kam, wenn ich nur versuchte, mein Leben
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