Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
richtig zu gehen, würde mir im Paradies ein strahlendes Wesen entgegentreten und mich Mutter nennen.«
Redlaw fiel mit einem lauten Ausruf auf die Knie.
»O du! der du mir durch die Lehre reiner Liebe das Gedächtnis, Erlöser am Kreuz, das Gedächtnis aller Guten, die für dich gestorben sind, wiedergegeben, höre meine Dankesworte und segne sie!«
Dann zog er Milly an sein Herz, und sie schluchzte vor freudiger Rührung: »Er ist wieder zu sich gekommen, er ist voll Liebe zu mir, o Gott, o Gott, wieder einer!«
Und jetzt trat der Student herein, an der Hand ein reizendes Mädchen, das sich sträubte mitzukommen, und Redlaw, jetzt so ganz anders zu ihm, sah in ihm und seiner jungen Braut eine Erinnerung an jene glückliche Zeit seines Lebens wieder, umarmte sie beide und bat sie, ihn wie ihren Vater zu betrachten. Und da Weihnachten die Zeit ist, wo vor allen andern Tagen im Jahr in den Menschen das Gedenken jeden heilbaren Kummers, jeden Elends und Leides auf Erden lebendig sein soll, legte er seine Hand auf das Haupt des Knaben und gelobte, indem er stumm zum Zeugen anrief den, der da gesagt hatte: »Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht«, das Wesen zu seinen Füßen zu beschützen, zu unterrichten und zum Menschen zu machen.
Dann reichte er Philipp fröhlich die Rechte und sagte, sie wollten heute in dem Zimmer, das, bevor die zehn armen Herren den Tausch eingegangen, der große Speisesaal war, ein Weihnachtsmahl veranstalten und man solle dazu so viele Mitglieder der zahlreichen Swidgerfamilie mitbringen, von der William gesagt, daß sie einen Ring um England bilden könnten, als sich in so kurzer Frist nur irgend auftreiben ließen.
Und das geschah. Es waren so viele Swidgers gegenwärtig, Kinder und Erwachsene, daß es kaum zu glauben war. Sie waren gekommen nach Dutzenden und Aberdutzenden, und gute hoffnungsvolle Nachricht traf ein über Georg, den Vater und Bruder und Milly wieder besucht und in ruhigem Schlummer verlassen hatten. Auch die Tetterbys waren zugegen samt Adolphus jr., der in regenbogenfarbigem Schal gerade noch rechtzeitig zum Rinderbraten kam. Johnny und das Wickelkind verspäteten sich natürlich, der eine gänzlich erschöpft, das andere in heftigem Zahnen. Aber das war man gewöhnt und regte sich deswegen nicht auf. Ein trauriger Anblick war das Kind, das keinen Namen hatte und weder Vater noch Mutter kannte, wie es den spielenden Kleinen zusah, unfähig, mit ihnen zu reden und zu spielen, und mit Kinderweise unbekannter war als ein scheuer Hund.
Traurig auch, wie die Kleinsten schon fühlten, daß es ganz anders war als sie, und sich ihm schüchtern näherten mit freundlichen Worten oder Mienen und ihm kleine Geschenke gaben, damit es sich nicht unglücklich fühlen solle. Aber der Knabe hielt sich an Milly – »noch einer«, sagte sie –, und da sie alle Milly so gern hatten, so freute sie das, und wenn sie ihn hinter dem Stuhle hervorgucken sahen, dann waren sie vergnügt, daß er so dicht bei ihr war.
Dies alles sahen der Chemiker, der neben dem Studenten und dessen Braut saß, und Philipp und alle übrigen. Die Leute haben sich seitdem erzählt, er habe nur gedacht, was hier niedergeschrieben steht, andere, er habe es im Feuer gelesen an einem Winterabend in der Dämmerstunde; andere wieder, der Geist sei nur das Bild seiner trüben Gedanken und Milly die Verkörperung der wirklichen Weisheit.
Ich sage nichts.
Nur das eine noch. Als sie alle in der alten Halle beisammensaßen, ohne Licht, nur beim Schein des großen Feuers im Kamin, da schlichen sich die Schatten wieder hervor aus ihren Schlupfwinkeln und tanzten im Zimmer herum und zeichneten den Kindern wunderbare Gestalten und Gesichter an die Wand und verwandelten heimlich, was wirklich und bekannt, in phantastische und ungeheuerliche Bilder. Aber ein Ding war in der Halle, dem sich die Augen Redlaws und Millys und ihres Gatten und des Alten und des Studenten und seiner Braut oft zuwendeten und das die Schatten weder verdunkeln noch verändern konnten: In ernsthafter Würde beim Schein des Feuers blickte das ernste Gesicht mit dem Spitzbart und der Halskrause wie lebendig aus dem dunkeln Getäfel der Wand auf sie herab, geschmückt mit den immergrünen Stechpalmenzweigen, und darunter klar und scharf und deutlich, als ob eine Stimme es riefe: Herr, erhalte mein Gedächtnis jung!
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