Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
Hände der Gläubiger; der Besitzer entlief und das Haus verfiel. Zu dieser Zeit begann unsere Bekanntschaft mit ihm. Der ganze Verputz war heruntergefallen, kein Fenster ohne zerbrochene Scheiben, der Vorplatz teils mit Gras bewachsen und teils eine Lache vom Überlaufen der Wassertonne und diese ohne Deckel, und die Haustür ein wahrhaftes Bild des Elends. Der Hauptzeitvertreib der Kinder der Nachbarschaft hatte darin bestanden, sich in Haufen auf den Türschwellen zu versammeln und, zum großen Behagen der Nächstwohnenden überhaupt und der nervenschwachen Dame gegenüber insbesondere, unaufhörliche Klopfübungen aller Art anzustellen. Es hatte nicht an zahlreichen Beschwerden gefehlt; Becken mit Wasser waren über die Köpfe der kleinen Übeltäter geleert worden – doch ohne Erfolg. Diese Lage der Dinge bewog den Trödler an der Straßenecke, auf die verbindlichste Weise den Klopfer herunterzunehmen und zu verkaufen; und das unglückliche Haus sah trübseliger aus als jemals.
Wir verloren es während einiger Wochen aus den Augen. Wer schildert unser Erstaunen, als wir nach Ablauf dieser Zeit keine Spur seines Daseins mehr fanden? Wir erblickten an seiner Stelle einen stattlichen, der Vollendung sich nähernden Laden, und an den Fenstern riesenhafte Anschläge, die dem Publikum verkündigten, daß jener baldigst eröffnet werden würde mit einer »umfassenden Auswahl von Ellenwaren«. Er wurde eröffnet; der Name des Eigentümers »und Co.« glänzte in goldenen Lettern fast zu blendend, um ihn anschauen zu können. Welche Bänder und Schals! Und zwei so elegante junge Leute hinter dem Ladentische, mit schneeigen Hemdkragen und Halstüchern, wie die Liebhaber in einer Posse! Was den Prinzipal betrifft, so tat er gar nichts, als daß er im Laden umherspazierte, den Damen Stühle reichte und wichtige Gespräche mit dem schönsten der jungen Herren führte, in dem die scharfsinnigsten Nachbarn den »und Co.« vermuteten. Wir sahen dieses alles mit Kummer an; denn eine böse Ahnung erfüllte uns, daß der Laden zugrunde gehen würde – und sie traf ein. Sein Verfall war langsam, aber sicher. Zuerst zeigten sich die »herabgesetzten« und dann die »bedeutend herabgesetzten Preise« in den Fenstern; sodann wurden Flanellstücke mit Ausverkaufspreiszetteln draußen vor die Tür gestellt; hierauf las man auf einem Anschlage, daß das erste Stockwerk ohne Möbel zu vermieten sei. Einer der jungen Herren verschwand gänzlich, der andere vertauschte die weiße mit einer schwarzen Halsbinde, und der Prinzipal vertauschte den Laden mit dem Weinhause. Der Laden wurde unsauber, zerbrochene Fensterscheiben wurden nicht durch neue ersetzt, und die »umfassende Auswahl von Ellenwaren« verschwand ein Stück nach dem andern. Endlich erschien der Wassersteuererheber, um die Leitung abzusperren, und nunmehr verschwand auch der Prinzipal und ließ dem Hauswirte seine Empfehlung und den Hausschlüssel zurück.
Der zweite Inhaber war ein Papier- und Kunsthändler. Der Laden war bescheidener eingerichtet, aber doch noch immer nett; allein, wenn wir vorübergingen, konnten wir uns niemals des Gedankens erwehren, daß es mit dem Geschäfte schlecht und bedenklich stehe. Wir wünschten ihm guten Fortgang, fürchteten aber für den Ausgang. Der Geschäftsinhaber mußte ein Witwer und anderwärts irgendwie angestellt sein, denn er begegnete uns alle Morgen auf dem Wege in die City. Das Geschäft wurde von seiner ältesten Tochter besorgt. Die Arme! Sie bedurfte keines Beistandes. Wir sahen bisweilen im Vorübergehen zwei oder drei Kinder, in Trauer wie sie selbst, in dem kleinen Zimmer hinter dem Laden sitzen; und gingen wir abends vorüber, so war sie stets mit Nähereien für die Geschwister oder mit kleinen eleganten Arbeiten zum Verkauf beschäftigt. Ihr blasses Antlitz sah dann bei der matten Erleuchtung noch trauriger und nachdenklicher aus, und wir dachten oft, wenn jene vornehmen gedankenlosen Frauen, die armen Mädchen wie dieser Kunsthändlerstochter den Markt verderben, das Elend, die bitteren Entbehrungen nur zur Hälfte kennten, denen diese bei ihren ehrenwerten Bemühungen um einen dürftigen Lebensunterhalt unterworfen sind: sie würden vielleicht sogar lieber die Gelegenheiten vorübergehen lassen, ihre Eitelkeit zu befriedigen, und die unweibliche Sucht, sich zur Schau zu stellen, bezähmen, als jene Unglücklichen zu einem letzten schrecklichen Rettungsmittel zu drängen, das nur nennen zu hören das Zartgefühl
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