Delphi Werke von Charles Dickens (Illustrierte) (German Edition)
seinem vierten oder fünften glücklichen Versuch, und Mr. Tibbs’ Teller verschwand wie ein Blitz.
»Ein Stückchen Brot, James«, sagte der unglückliche Herr vom Hause, so hungrig wie zuvor; allein, Mrs. Tibbs befahl James, das Fleisch aufzusetzen, und James wurde fortwährend so sehr beschäftigt, daß das Brot für seinen Herrn vorerst vergessen wurde. Hicks nahm die Gelegenheit zu einem höchst angemessenen Zitate wahr:
»An Ochsen ist es arm, an Rindern auch dies Land,
Doch reich an Ziegen-, Schöps- und Lammfleisch ich es fand,
Und bringt ein Festtag ihnen lächelnd seine Grüße,
Dann drehen sie das Fleisch an dem Barbarenspieße.«
»Welch ein unfeines Benehmen, so zu sprechen«, dachte die kleine Mrs. Tibbs.
Die jungen Damen benutzten indes die Gelegenheit, sich belesen und poetisch zu zeigen, und nannten oder rezitierten die empfindsamsten Verse Byrons als ihre Lieblingsstellen. Mr. Septimus Hicks bemerkte, daß seinem Geschmack nach nie Schöneres gedichtet worden sei als der Anfang des siebten Gesanges des Don Juan, wo die Belagerung von Ismael geschildert werde.
»Da Sie von einer Belagerung reden«, fiel Tibbs ein, den Mund voll Brot, das er endlich erhalten hatte, »so lassen Sie sich sagen: Als ich 1806 unter den Freiwilligen diente – unser Kommandeur war Sir Charles Rampart –, sagte Sir Charles Rampart eines Tages, als wir auf dem Platz exerzierten, wo jetzt das Londoner Universitätsgebäude steht, zu mir und rief mich aus dem Gliede heraus: ›Tibbs‹, sagte er, ›Tibbs –‹«
»James, sag deinem Herrn«, unterbrach ihn Mrs. Tibbs in einem bedenklich scharfen Tone, »wenn er die Hühner durchaus nicht tranchieren will, so möge er sie mir schicken.« Der in Verwirrung gebrachte Freiwillige tranchierte und mußte seine Geschichte unbeendigt lassen. Die Unterhaltung wurde um so lebhafter, je bekannter die Gesellschaft miteinander wurde. Man fühlte sich allgemein bequemer und behaglicher, was auch bei Tibbs der Fall war, denn er schlief unmittelbar nach dem Essen ein. Mr. Hicks und die Damen sprachen über Ästhetik, Theater und Literatur; Mr. Calton wiederholte, was bereits gesagt worden war, zwei- und dreimal mit anderen Worten. Mrs. Tibbs stimmte allem bei, was Mrs. Maplesone sagte; Mr. Simpson saß da mit einem Lächeln auf dem Antlitz, und weil er nach je vier bis fünf Minuten ein »Ja« oder ein »Sehr wahr« einfließen ließ, so glaubte jedermann, er verstände vollkommen, was gesprochen wurde. Die Herren vereinigten sich nach dem Dessert sehr bald wieder mit den Damen. Mrs. Maplesone und Mr. Calton spielten Cribbage, und »die jungen Leute« unterhielten sich mit Musik und Konversation. Die Misses Maplesone sangen die rührendsten Duette und begleiteten sich selbst auf Gitarren an himmelblauen Bändern. Mr. Simpson hatte eine rosa Weste angelegt und sagte, daß er hingerissen sei, und Mr. Hicks befand sich im siebten Himmel der Poesie, oder im siebten Gesange des Don Juan, was für ihn ein und dasselbe war. Mrs. Tibbs war ganz bezaubert von ihren neuen Hausbewohnern, und Mr. Tibbs brachte den Abend nach seiner gewohnten Weise zu – das heißt, er schlief ein, erwachte, schlief abermals ein und wachte zur Abendessenszeit wieder auf.
Wir wollen uns der Erzählerfreiheit nicht bedienen und »Jahre dahinschwinden lassen«, sondern bitten die Leser nur gefälligst anzunehmen, daß seit dem beschriebenen Diner sechs Monate verflossen sind und daß Mrs. Tibbs’ männliche und weibliche Mieter während dieser Zeit miteinander gesungen, getanzt und die Theater und Sehenswürdigkeiten besucht haben, wie es bei Boarders der Fall zu sein pflegt. Nach Verlauf besagter sechs Monate erhielt Mr. Septimus Hicks eines Morgens früh in seinem Schlafzimmer ein Billett von Mr. Calton, in dem ihn dieser ersuchte, zu ihm in sein Zimmer zu kommen. Der teilnehmende Arzneikunde-Beflissene eilte sogleich hinunter, in der Meinung, daß Mr. Calton Patient sei. Mr. Calton saß in einem Lehnsessel, einem Türklopfer ähnlicher als je. Mr. Hicks hustete und Mr. Calton schnupfte. Endlich begann Hicks:
»Ich erhielt ein Billett von Ihnen«, sagte er mit bedenklicher Miene und bebender Stimme, wie ein erkälteter Pulcinell.
»Allerdings«, erwiderte Calton.
»Hm!«
»Ja, ja!«
Da beide Herren nach diesem Zwiegespräch fühlten, daß etwas noch Wichtigeres zur Sprache kommen würde, so taten sie, was viele in ihrer Lage getan haben würden – sie sahen einander mit entschlossensten Mienen an. Die
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