Dem eigenen Leben auf der Spur
kräftiger, desto mehr Freiheitsgrade, bringe ich die Erkenntnis auf einen Nenner.
Aber ganz so vernünftig bin ich dann doch nicht! Ich fahre mit Anlauf gegen und über alle möglichen Hindernisse, karamboliere beim Sport mit anderen Rollstuhlfahrern. Es gelingt mir nicht, den stabilen Rollstuhl zu beschädigen, nichts verbiegt sich oder bricht ab.
Meine Therapeuten wissen mein destruktives Verhalten nur dadurch auszubremsen, indem sie mir so schnell wie möglich einen eigenen Rollstuhl bestellen, für den ich mich selbst verantwortlich zeigen soll. Um dem Ganzen auch den nötigen Nachdruck zu verleihen, erklären sie mir, dass ich mit diesem Rollstuhl dann für die nächsten Jahre unterwegs sein werde.
Alfred und Jenny lassen den neuen Rollstuhl genau auf meine Maße zuschneiden. Völlig ungerührt diskutieren sie über Sitzbreite, Sitztiefe und Winkel, über Kastorbuchsen und Steckachsen, Radnabenabstand und weitere technische Details, die sogar mir als geübtem Fahrradfahrer rätselhaft erscheinen. In dem Bestellmaßblatt ist auch eine Option auf höhenverstellbare Schiebegriffe aufgeführt. Alfred kürzt die entstehende Diskussion rasch und kategorisch ab: »Der wird nicht geschoben, der macht das selbst.«
Bis zu meiner Selbständigkeit sollte es noch ein weiter Weg sein. Zunächst muss ich so weit stabil sein, dass ich innerhalb der Klinik auf ein weniger betreuungsintensives Zimmer verlegt werden kann. Nichts sehne ich mehr herbei — wieder ein bisschen Privatsphäre! Kein morgendliches Wecken mehr mit ständigem Messen von Blutdruck und Puls, und vor allen Dingen: ungestörter Schlaf. Endlich keine nächtlichen Umlagerungen mehr, endlich ein eigener Rhythmus für mein Tagesprogramm. Auch das Schmerzgestöhne der anderen Jungs oder die lausigen Talkshows von früh bis spät würde ich nicht vermissen. Und ganz bestimmt nicht die Aggression von Günther, der mich eines Tages, als ich in das verdunkelte Zimmer komme, mit jemandem verwechselt und eine Wasserflasche mit voller Wucht in meine Richtung schleudert.
Bei dem Gedanken an ein Einzelzimmer gehe ich als Erstes in Gedanken die CDs durch, die ich bald wieder ohne Kopfhörer hören werde. Die Helikopterpassage in Pink Floyds »The Wall« gehört unbedingt dazu. Als ich sie einige Wochen später tatsächlich zum ersten Mal so laut hören kann, wie man sie hören muss, damit es authentisch klingt, steht nach wenigen Minuten das gesamte Pflegepersonal inklusive Ärzteschaft in meinem Zimmer.
Diese Stelle hat mittlerweile eine ganz besondere Bedeutung für mich bekommen. Wie oft hatte ich einen Helikopter auf dem Klinikdach landen hören. Woche für Woche kamen auf diese Weise neue Patienten in die Klinik, ein grausamer permanenter Strom von Menschen, der nie abreißt. Beim gemeinsamen Essen reagierte dann der eine zynisch, der Nächste hilflos, der Dritte begann zu weinen. Jeder hat seine eigene Art, damit umzugehen. Oder sucht sich ein passendes Ventil.
Zum Beispiel Schwimmflossen. Ich weiß nicht, wer sie mir in die Klinik mitgebracht und was er sich dabei wohl gedacht hatte. Auf alle Fälle holte ich sie aus dem Schrank, zog sie an und erschien damit eines Tages zum verabredeten Schwimmtraining.
Jenny lachte schallend, und ich freute mich über den gelungenen Witz. Ihre Hospitantin, eine Physiotherapeutin, die aber noch nie mit Querschnittgelähmten gearbeitet hatte, war von meiner Art Humor dagegen überhaupt nicht amüsiert. Später fragte sie Jenny, ob ich ernsthaft Probleme mit dem Rollstuhl hätte. Was für eine Frage! Schwarzer Humor war ein gutes Ventil für mich, wenn die Tränen schon nicht flössen.
Eines Tages wollte RTL in der Klinik filmen, und als relativ frisch verletzter Patient wurde ich ausgewählt, um exemplarisch behandelt zu werden. Der Spezialist sollte vor laufender Kamera erklären, von welch fundamentaler Bedeutung das Wiedererlangen der Gleichgewichtsfunktion eines Patienten ist. Die Übung besteht darin, dass man auf einen kleinen Kreisel gesetzt und in alle möglichen Richtungen geschubst wird, mit dem Ziel, nicht herunterzufallen und immer wieder in die aufrechte Position zu kommen.
Ich erklärte mich gern dazu bereit und erschien zu dem Termin in kompletter Biker-Montur. Es war viel Arbeit gewesen, mir mit tatkräftiger Hilfe der Krankenschwester die Lederhose und die Harley Davidson-Stiefel anzuziehen. Mit der Begründung, dies wäre kein behandlungskonformes Outfit, wurde ich umgehend auf die Station
Weitere Kostenlose Bücher