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Dem eigenen Leben auf der Spur

Dem eigenen Leben auf der Spur

Titel: Dem eigenen Leben auf der Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Bernhard
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Rollstuhlfahrern komme, bemerkt ein Rollstuhl-Veteran zu den anderen: »Der hat noch Hoffnung, der ist noch frisch.«
    Wie sehne ich wieder ein normales Leben herbei, in dem der Rollstuhl höchstens eine sekundäre Rolle spielen darf. Als »Fußgänger« bezeichnet man hier die Menschen, die nicht im Rollstuhl sitzen. So jemand willst du bleiben, nehme ich mir vor, und sei es nur mit deiner Einstellung.
     
    Alfred, mein Therapeut für die zweite tägliche Einheit Physiotherapie, ist Pole. Er nimmt mich hart ran. »Wir müssen lernen Rollstuhl — Boden und zurück. Wie willst du allein leben, wenn du das nicht kannst?« Wochenlang zwinge ich mich, einzig von Sehnen und Bändern gehalten, auf meinen Füßen zu hocken und mich mit den Händen hochzustemmen. Reine Physik ist hier am Werk. Um mit dem Becken die Sitzhöhe des Rollstuhls zu erreichen, lehne ich mich kopfüber so weit es geht nach vorn.
    »Das halbe Leben eines Rollstuhlfahrers ist der Schwung«, ruft mir einer zu, schwingt sich hoch und landet sicher auf der 38 Zentimeter breiten Sitzfläche seines Sportrollstuhls. »Perfekte B-Note«, applaudiere ich ihm zähneknirschend.
    Im Tal des weitläufigen Klinikparks leben rosarote Flamingos. Der Weg dorthin ist ziemlich steil, doch so oft wie möglich bitte ich meinen Besuch, mit mir zusammen diese anmutigen Tiere zu besuchen. Zugleich erhöhe ich damit Schritt für Schritt meinen Aktionsradius.
    Von den Tieren aus blicke ich auf das Klinikgebäude zurück, es ist nur 300 Meter weit entfernt, die gefühlte Weite beträgt jedoch schon Kilometer. Bei dem Flamingoteich riecht es nach Wattenmeer. Endlich fühle ich mich weit weg vom zermürbenden Klinikalltag und überlege, ob ich diese Tiere jemals in ihrer Heimat in Südamerika oder in Afrika besuchen kann. Noch vor wenigen Wochen brauchte ich für das Packen bei einer Reise, egal, wie lang sie dauern sollte, nur wenige Minuten, und das ganze Gepäck passte in eine Sporttasche. Heute passt nicht einmal der Rollstuhl problemlos in einen Kofferraum und der Vorrat an Kathetern für eine zweiwöchige Reise füllt jetzt allein die Sporttasche.
    Neben dem Teich steht ein kleiner Kiosk. Wie herrlich die erste Dose Cola schmeckt! Freiheit! Ich spüre wieder, dass es ein Leben außerhalb der Klinik gibt. Das werde ich genießen, so unbehindert wie nur irgend möglich.
    »Gleich eine ganze Dose!«, kritisiert mich kurze Zeit später der Arzt, der meine tägliche Trinkmenge überprüft. Meine spastische Blase hatte autonom kontrahiert, der Schließmuskel hielt dem erhöhten Druck nicht stand und so komme ich mit nasser Jogginghose wieder auf die Station.
    Kein Genuss ohne Reue. Ich bin verzweifelt. Wie viele Körperfunktionen werde ich denn noch überwachen müssen! Ein angenehmes, leichtes Leben sieht anders aus.
     
     

Training, Training, Training
     
    Es gibt kaum ruhige Momente, um über mein Unglück zu weinen. Der Alltag ist mit Therapien mehr als gefüllt und nachmittags, am Ende des Kliniktages, kommt oft Besuch, der bis spät abends bleibt.
    Trauer hebe ich mir für einen späteren Zeitpunkt auf, hier gilt erst mal die Devise, so schnell wie möglich fit zu werden, also bald ohne Begleitung die Flamingos besuchen zu können. Das bedeutet, das vierrädrige Fahrzeug, in dem ich ab jetzt sitzen werde, vollständig zu beherrschen, auch wenn ich es lieber in tausend Kleinteile zersägen würde. Noch ein Training, das sich in die Trainingseinheiten von Darm, Blase und Anziehen einreiht: Rollstuhltraining.
    In der großen Sporthalle fahren wir unter Anleitung so schnell wir können im Kreis, eine gemischte Gruppe im Alter zwischen 20 und 60 Jahren lernt den Rollstuhl mit kräftigen Schüben anzutreiben. »Mit beiden Händen zupacken«, erklärt mir Jürgen, ein breitschultriger Physiotherapeut mit Dreitagebart, der selbst Motorrad fährt und sich davon auch durch die Schicksale, die ihm täglich bei seiner Arbeit begegnen, nicht abbringen lässt. Er zeigt auf die beiden Handballen, die beide den Stahl des Greifreifens kurz berühren sollen. Das Ganze im Rhythmus: fest zupacken, schieben und dann die Arme locker nach hinten schwingen.
    Damit das einigermaßen elegant geht, muss der Oberkörper durch Krafttraining gestärkt werden, und das bedeutet Arbeiten mit Gewichten, Bewegungstraining auf der Matte und natürlich Physiotherapie. Ungefähr 25 Prozent aller Muskeln sind für mich willentlich noch ansteuerbar. Sie müssen den fehlenden Rest kompensieren können. Je

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