Dem eigenen Leben auf der Spur
Gestern habe ich mich wider besseres Wissen weitergetrieben, das ist heute anders. Intuitiv weiß ich, dass es gut ist, weiterzugehen. Jeden Abend ein anderes Bett, dieser Maxime will ich treu bleiben. Ob ich mir Jessicas feurige Blicke, als ich das in Barcelona sagte, jetzt nur einbilde? Vielleicht hätte ich doch die Hopfendragees mitnehmen sollen.
Maarten kommt aus dem Dorf zurück und erzählt, die Guardia Civil habe gestern Nacht nach einem verschollenen Rollstuhlfahrer gesucht. Der vorbeifahrende Radfahrer muss wohl abends in der Bar von unserer kurzen Begegnung berichtet haben. Mein Hilferuf per Handy wurde dadurch doch ernst genommen und die Polizei alarmiert. Im Laufe des Tages werden meine Gastgeber die Guardia Civil über meinen Verbleib informieren. Zunächst setzen sie mich aber dort ab, wo sie mich gestern aufgelesen haben.
Kaum sind die beiden fort, springen direkt vor mir zwei Polizisten in der Mittagssonne aus ihrem Auto und bedeuten mir, zu stoppen. »Todo bien«, versuche ich sie zu beschwichtigen, aber ich bemerke an ihrem bestimmten Auftreten, dass irgendetwas faul ist in der Provinz Extremadura. Woanders hätte ich mir jetzt ernsthaft Sorgen gemacht, doch hier blicke ich zwar in besorgte, aber dennoch freundliche Gesichter. Wenige Minuten später wäre ich auf einen einsamen Feldweg eingebogen und hätte stundenlang keine Menschenseele mehr zu Gesicht bekommen.
Zwei weitere Polizeiwagen kommen hinzu, und sechs freundliche Polizisten erklären mir nun, dass sie mich die ganze Nacht über gesucht und schon Schlimmes befürchtet hätten. Der Gruppenführer spricht gut Englisch, und ein schlechtes Gewissen überkommt mich, wie sie alle mit ihren staubigen Schuhen abgekämpft vor mir stehen. Haarklein wird die Rettungsaktion von Linda und Maarten aufgenommen, und mir klingen Maartens Worte von heute Morgen im Ohr: »Ein bisschen lokale Publicity ist sicherlich nicht schlecht für uns.«
Aber ich komme einfach nicht los, keiner macht irgendwelche Anstalten, mich wieder meinem Schicksal zu überlassen. Sie ermahnen mich eindringlich, bei einer ähnlichen Situation die nationale Notfallnummer der Guardia Civil »062« zu wählen, »dort spricht man auch Englisch«. Als Nächstes müsse ich erst mal in das örtliche Centro Medico zum Check, das sei gesetzliche Vorschrift.
»Mir geht es gut, danke für all die Mühe, vielleicht kann man ja eine Ausnahme machen und ich verschwinde ganz still auf meinem Weg«, starte ich einen letzten Versuch, mich doch noch aus dem Staub zu machen, natürlich erfolglos. Gesetz ist Gesetz und da verstehen die Spanier offenbar noch weniger Spaß als ihre deutschen Kollegen. Im Auto sitzend, eskortiert von einer Polizeistreife, wird mir klar, dass die heutige Etappe deutlich kürzer ausfallen wird als geplant.
Das Centro Medico ist unbesetzt. Nach längerem Telefonieren stellt sich heraus, dass der diensthabende Arzt Siesta macht, ebenso die Helferin. Die drei Polizisten schütteln lachend den Kopf, »esta España«.
Der Arzt erscheint bald darauf, gutgelaunt. Er hat offensichtlich nicht über zu hohe Auslastung zu klagen und nimmt sich entsprechend viel Zeit für die Untersuchung. Vielleicht hat er am Abend dann eine Geschichte von einem verrückten Deutschen zu erzählen... Als er meine Hände betrachtet, schreckt er allerdings auf und bittet die Arzthelferin, sie zu desinfizieren, was sie hingebungsvoll tut. Er rät mir dringend, die Handcreme zu verwenden, die er mir ärztlich verordnet.
Beim Abschied versammeln sich der Arzt, seine Helferin und die Polizisten vor dem Gesundheitszentrum und winken, wie man sich von einem Familienmitglied verabschiedet. Esta España, olé.
Danke, Guardia Civil España!
Im Rollstuhl
Der erste Schritt zu einem selbständigen Leben nach dem Unfall besteht darin, mobil zu sein. Und das heißt: Rollstuhl. Ich konnte mir nie vorstellen, in einem solchen Omi-Chopper zu sitzen, und jetzt in der Klinik kann ich es immer noch nicht. Als das erste Mal so ein leeres Ding an mein Bett herangeschoben wurde, habe ich es fassungslos angestarrt. Für so ein unhandlich wirkendes, silbrig glänzendes Gefährt war in meinem Leben bisher kein Platz.
Die Physiotherapeutin lässt sich von meiner Abwehrhaltung nicht im Geringsten abschrecken und hievt mich zusammen mit einer Krankenschwester in das wacklige Ding. Eine ganz neue Perspektive: Überragte ich früher mit meinen 1,90 Metern die meisten Menschen, befinde ich mich jetzt auf
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