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Dem eigenen Leben auf der Spur

Dem eigenen Leben auf der Spur

Titel: Dem eigenen Leben auf der Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Bernhard
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der Höhe von Brust oder Hintern.
    Diese neue Position ist aber aus einem anderen Grund nicht auszuhalten. Seit Monaten liege ich im Bett, und mein Kreislauf hat sich auf die liegende Position eingestellt. Ich kollabiere, werde blass und muss schleunigst wieder zurück in die Horizontale.
    »Wir werden für das Sitztraining nun täglich die Zeit steigern, damit du bald selbständig zu mir in die Behandlungsräume kommen kannst. Jetzt machen wir erst mal ein paar Dehnübungen«, erklärt Jenny resolut und ergreift mein rechtes Bein. Von mir aus hätte sie auch an einem Holzbrett herumhantieren können, es hätte sich genauso angefühlt.
    Jenny ist drei Jahre älter als ich, sehr attraktiv und lächelt viel. Anscheinend macht ihr der Beruf sehr viel Freude. Ihre braunen Augen haben etwas sehr Mitfühlendes und passen perfekt zu ihrem braunen gelockten Haar.
    »Wir sehen uns nun täglich«, sagt sie und verlässt das Zimmer nach 45 Minuten. Den Rollstuhl nimmt sie wieder mit, ohne Hilfe kann ich sowieso nichts damit anfangen.
     
    Oft besuchen mich Freunde und Verwandte, und obwohl ich mich sehr darüber freue, spüre ich immer einen tiefen Schmerz. Sie laufen unbeschwert herum, und ich kann mich nicht einmal allein in diesem dreizehn Kilo schweren Ding bewegen, sondern benötige bei tausend Handgriffen Hilfe.
    »Ich konnte mir nie vorstellen, dich einmal im Rollstuhl zu sehen«, bemerkt Marius, den ich vor zwei Jahren auf einem Surf und Bike Camp kennengelernt hatte.
    Wie zu alten Zeiten trinken wir in der Sonne Bier, nur diesmal eben in einer mickrigen Grünanlage vor dem Krankenhaus. Er arbeitet als Rettungssanitäter, in seiner Gegenwart fühle ich mich sicher. Das Bier macht mich müde, das Sitzen im Rollstuhl wird zur Tortur. Kurzerhand wirft er mich nach hinten um, und ich liege in sitzender Position im Rollstuhl im Gras, die Knie über der Brust und die Füße in der Luft. Er legt sich daneben und wir schlafen kurz ein, vorbeilaufende Patienten gucken verwundert, keiner sagt etwas.
    »Das Ding muss doch wie ein Kettenhemd für dich sein«, sagt er zu mir. Dabei habe ich noch gar keine rechte Vorstellung davon, wie eng dieses Korsett in Zukunft sein würde, denn noch befinde ich mich in einem absoluten Schutzraum. Sämtliche Einrichtungen sind barrierefrei erreichbar und jeder der eintausend Mitarbeiter der 200-Betten-Klinik ist perfekt geschult im Umgang mit Menschen mit Behinderungen. Es gibt keine peinlichen Situationen, bei einem Sturz aus dem Rollstuhl ist sofort fachkundiges Personal zur Stelle und hilft.
    Eine unwirkliche Welt, deren Existenz ich nie erahnt hätte, als Motorradfahrer hatte ich dieses mögliche Szenario verdrängt. Mein Leben ist ohne Vorwarnung von einem auf den anderen Moment vollständig umgekrempelt worden.
     
    Oft stehe ich neben mir und beobachte die Situation aus einer »normalen Perspektive«. Um halb sieben ist die mehrfach unterbrochene Nachtruhe endgültig beendet. Zwei oder drei Pflegende treten in das Zimmer ein und beginnen mit ihrer Arbeit.
    Zweimal pro Woche ist die Situation besonders surreal. Wie in einem Monty Python-Film weckt mich der Pfleger um halb sieben mit den Worten: »Heute ist Abführtag«, und stellt mir einen Cocktail mit Abführmitteln auf den Beistelltisch. Darmtraining nennt sich das, der Darm soll konditioniert werden, sich willentlich zu festen Zeiten zu entleeren, denn er gibt keine Füllstandsanzeige ans Gehirn mehr ab. Der krankenhaustypische Geruch von Desinfektionsmitteln, Seife, Urin, Verbandsmitteln und Salben wird an diesen Tagen ergänzt um die Note von vollen Windeln.
    Meine Cousine fragt mich einmal entgeistert: »Sind Abführmittel nicht schädlich für den Darm?« Recht hat sie, denke ich, kann mich aber doch nicht bremsen zu antworten: »Ich glaube, eine Querschnittlähmung ist generell schädlich für die Gesundheit, Liquidipur hin oder her... «
     
    »Es wird zirka drei Jahre dauern, bis auch Ihr Kopf im Rollstuhl angekommen ist«, erklärt mir einmal einer der Ärzte. »Erst dann werden Sie den Rollstuhl vollständig akzeptiert haben.« Ich habe mir damals nicht vorstellen können, dass dieser Tag jemals kommen würde.
    Ich empfinde es als extrem mühsam und ineffizient, im Rollstuhl vorwärtskommen zu müssen. An jedem Berg rollt das Ding immer wieder zurück und ich merke, dass Hände nicht zum Gehen gemacht sind. Aber ich will mich in dieses neue Thema auch überhaupt nicht hineinfinden. Als ich zum ersten Mal zu einem Treffen von

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