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Dem eigenen Leben auf der Spur

Dem eigenen Leben auf der Spur

Titel: Dem eigenen Leben auf der Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Bernhard
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zu dem inzwischen von mir gewohnten Streckenpensum war dieser Tag deutlich zu bewegungsarm, ich ziehe mich wie ein verwundetes Tier in ein Zimmer zurück und schlafe ein.
    Im Traum wandere ich glücklich weiter, diesmal ohne Rollstuhl. »Hier sind keine Treppen«, ist die Erklärung, »nur wenn Stufen da sind, benötigst du den Rollstuhl.« Das ist logisch. Die Wanderung auf zwei Beinen fühlt sich unendlich leicht an, auch wenn der Gang etwas unsicher ist. Wie mit neunzehn — vor dem Unfall. Zwei baskische Radfahrer reißen mich aus einem todesähnlichen Schlaf, indem sie rücksichtslos in das Zimmer hereinpoltern.
    Die Wirtin der Kneipe nebenan kocht für uns. Wir sitzen zusammen mit anderen Gästen an Tischen auf dem Gehweg der unbefahrenen Hauptverkehrsstraße. Die Radfahrer sprechen wenig, nur die Wirtin erzählt. Ein Pilger habe gestern von mir gesprochen. Wahrscheinlich Ludek, denke ich, und frage mich, wo er sich wohl jetzt befindet. Wenn er nicht aus irgendeinem Grund aufgehalten wird, werden wir uns wohl nie wiedersehen. Adressen haben wir nicht ausgetauscht. Auf dem Jakobsweg macht man das generell nicht. Warum eine göttliche Zusammenkunft unnötig verlängern?
    Die Bar schließt sehr früh, und mit uns versiegt das letzte Leben in dem kleinen Kaff. Die Radfahrer wollen auch nicht weiterfeiern. Damit ist die Party für den heutigen Tag beendet.
     
    Die Gefühle beim Pilgern ähneln denen beim Motorradfahren. Unter mir der harte Straßenbelag, Wind auf der Haut, absolute Freiheit, heute hier, morgen dort. Wild is the wind. Wie groß ist diese Freiheit? Habe ich sie mir vielleicht nur vorgegaukelt? Ist sie nicht nur eine Illusion? Mit meinem Kawasaki Chopper konnte ich nicht einmal eine Treppe hinauffahren oder einen Motocross-Parcours meistern. Über Hindernisse musste das Ding genauso geschoben werden wie jetzt der Rollstuhl. Der einzige, natürlich entscheidende Unterschied besteht darin, dass ich das Motorrad ohne Hilfe durch andere über Hindernisse manövrieren konnte.
     
    Der süßliche Geruch von Tabak versetzt mich in einen Amsterdamer Coffee Shop. Seit Stunden sehe ich nur rote Chilischoten, und jetzt Tabakfelder. Come to where the flavor is, und das im westlichen Europa? Überall Pagoden oder Scheunen, aus denen es süßlich riecht.
    Auf Tomatenfeldern finde ich frische, rote Früchte, ein Bauer schenkt mir eine Honigmelone, dazu esse ich Chilischoten. So frisches Obst und Gemüse habe ich in Frankfurt lange nicht mehr bekommen.
    Zähe Kilometer. Die Landschaft bietet keine Ablenkung, und das Ziel will nicht näher kommen. Ich muss die Zeit abspulen, und dazu brauche ich Disziplin. Disziplin, um mich nicht einfach ins Gras zu legen oder das Angebot eines Mofafahrers anzunehmen, mich ein Stück des Wegs ziehen zu lassen. Nach einer Pause gestaltet es sich noch viel zäher, diesen monotonen Kreislauf zu durchbrechen.
    »Wenn ich mich selbst nicht bewege, bewegt sich gar nichts«, erklärte mir eine Bekannte, als sie vom Jakobsweg zurückkam, nachdem sie mir zuvor ein Jahr lang in den Ohren gelegen hatte, wie schlecht es ihr gehe. Ich freute mich, dass sie meinem Rat gefolgt war und etwas in ihrem Inneren veränderte, um die Außenwirkung nachzuziehen. »Danke, dass du mich auf den Weg gebracht hast«, sagte sie nach ihrer Rückkehr. »Es kam nur durch mich, nicht von mir«, erwidere ich. Wie schön, Werkzeug sein zu dürfen.
    Die Leere ist so groß, dass sogar Gebete unmöglich sind. Für jede noch so kleine Abwechslung mache ich einen Halt. Die Wegbeschreibung für die kommenden Kilometer kenne ich fast auswendig, so oft habe ich sie gelesen in der Hoffnung, dass doch irgendetwas passiert. Durst, Wasser trinken, nichts hilft, der Weg wird nicht kürzer. Alles bremst. Ist das die berüchtigte Einsamkeit des Langstreckenläufers, die ich spüre, wie der Held in der Geschichte von Alan Silitoe?
     

    Bauern bei der Tabakernte
     
    Was für eine Wohltat sind da kurzfristig die Biere und die Tapas in der Bar im nächsten Dorf, das ich erreiche! Der Barkeeper und ein Gast feiern mich und die Tatsache, dass ich jetzt schon so lange erfolgreich unterwegs bin.
    Hinter Galisteo erweist sich die Wirkung des Alkohols leider als gar nicht gut. Meine Verfassung bremst mein Tempo doch signifikant, immer wieder schlafe ich sekundenlang beim Rollen ein. In Frankfurt bin ich eines Nachts in genau so einer Situation auf dem Weg von einer Disko nach Hause beim Rollen eingeschlafen — bis mich ein Laternenpfosten

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