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Dem eigenen Leben auf der Spur

Dem eigenen Leben auf der Spur

Titel: Dem eigenen Leben auf der Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Bernhard
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rollstuhlgerechte Wohnung ein, wobei sie keine Kosten scheuen, um alles für mich passend herzurichten. Heimlich wünsche ich mir weniger zeitlichen und finanziellen Aufwand bei den Umbaumaßnahmen, dafür etwas mehr Gespräche und mehr seelischen Beistand für meine neue Situation.
    Alles erinnert mich hier an die Zeit vor dem Unfall, der ständige Vergleich von früher zu jetzt ist kaum auszuhalten. Als ich meinen Vater einmal mit tränenerstickter Stimme frage, was er denn in meiner Situation machen würde, beantwortet er die Frage in gewohnt nüchterner Art: »Ich würde lernen, mit dem Ding umzugehen, und dann meinen Job weitermachen. Ich blicke immer nur nach vorn.« Zeichnet das Führungskräfte aus?
     
    Einen Tag vor meiner Entlassung am 6. Dezember 1993 küsse ich Jenny zum ersten Mal. Man sagt, dass über siebzig Prozent des Therapieerfolges von der Sympathie zwischen Therapeut und Patient abhängen. Keine Frage: Meine Behandlung war überaus positiv verlaufen.
    Neben dieser Arbeitsebene hatten wir uns in den letzten Monaten einige Male abends verabredet, und ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich mich still in sie verliebt hatte.
    Ich bin ein wenig durcheinander: Ich habe mich in eine »ältere« Frau verliebt, eine Frau, die auch noch Fury in the Slaughterhouse gut findet! Einmal gingen wir in der klirrenden Kälte stundenlang im Wald spazieren, erst in der Klinik bemerkte ich später meine blau angelaufenen Füße. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft wünsche ich mir, länger an diesem Ort bleiben zu können.
    Beim Abschied verabreden wir, gemeinsam Silvester zu verbringen. Dafür würde es sich zu kämpfen und sich bis dahin gut in der neuen Umgebung zurechtzufinden lohnen.
    Als mich mein Bruder nach Freiburg bringt, fragt er mich auf der langen Fahrt natürlich über sie aus. Ich schwärme ihm von Jenny vor. Seine skeptischen Nachfragen bringen mich auf die Palme. Noch vor wenigen Monaten wäre ich wutentbrannt aus dem Auto gestiegen und hätte ein halbes Jahr lang nicht mit ihm gesprochen, aber jetzt ist Weglaufen für mich unmöglich.
    Seit Oktober bin ich als Student an der volkswirtschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg eingeschrieben, weshalb ich eine rollstuhlgerechte Wohnung im Studentenwohnheim erhalten habe. Die Zweiraumwohnung ist klein, dunkel und mit Tisch, Schrank, Bett und Küche teilweise möbliert. Egal — nach sechs Monaten endlich wieder Privatsphäre! Ich muss nicht reden, wenn ich nicht möchte, keinen interessiert es, wenn ich einmal vierundzwanzig Stunden lang die Wohnung nicht verlasse. Zum ersten Mal Ruhe, und die koste ich aus.
    Ich habe aber auch Angst vor dem Neuanfang unter diesen veränderten Rahmenbedingungen. Ich weiß nicht, was mich in meinem neuen Leben erwartet. Neben mir im Studentenheim wohnt ein weiterer Rollstuhlfahrer, er studiert Informatik. Nach meinem ersten Soundcheck der Stereoanlage lernen wir uns schnell kennen. »Welcome to the Jungle« von Guns ’n Roses, das soll mein Leitmotiv für die kommenden Monate sein.
    Bei den Gängen zu Ämtern und zur Uni begleiten mich anfänglich Freunde, an eine Aufnahme des Studiums und vor allem an ein Nachholen des Stoffes der vergangenen zwei Monate ist jedoch nicht wirklich zu denken. Trotz intensiver Vorbereitung in Bad Wildungen sind einfach immer noch viel zu viele alltägliche Griffe neu zu erlernen, auch physisch bin ich noch längst nicht dort, wo ich sein möchte, und trainiere permanent weiter neue Muskelgruppen und erlerne dadurch neue Fähigkeiten. Ich finde meine eigenen Wege durch die Stadt und präge mir ein, wo sich Bordsteine, ein Aufzug und ebenerdige Straßenbahneinstiege befinden.
    An der Uni gibt es für mich in den großen, voll besetzten Hörsälen zwei Möglichkeiten, bei einer Vorlesung dabei zu sein. Ich parke in der letzten Reihe, etwa 100 Meter entfernt vom Professor, seitlich an der letzten Bank, oder ich stelle mich in die erste Reihe, fast direkt an sein Pult. Eine einsame Erfahrung, denn die ersten acht Reihen hinter mir sind immer unbesetzt, und der Professor macht keine Anstalten, einem Erstsemester im Rollstuhl besondere Beachtung zu schenken.
     
    Jenny und ich werden ein Liebespaar. Ein Jahr später zieht sie zu mir nach Freiburg, für uns beginnt eine wunderbare Zeit. Zu meinem großen Ärger höre ich leider sehr oft, wie praktisch das doch für mich sei. Verletzt ballere ich dann immer heftig zurück, schließlich ist sie meine Freundin, und als meine Freundin ist sie

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