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Dem eigenen Leben auf der Spur

Dem eigenen Leben auf der Spur

Titel: Dem eigenen Leben auf der Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Bernhard
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Angst zu tun, als ich mit einem Schlag eine Ader in meinem Penis verletze und dieser wie ein Ballon anschwillt. Mit bebender Stimme rufe ich sofort meinen Urologen an, der mir sagt, was zu tun ist. Diesen Warnschuss habe ich verstanden, ab da höre ich mit der Selbstverprügelei auf.
     
     

Die Barriere im Kopf überwinden
     
    Nachdem ich das Grundstudium dann doch in der regulären Studienzeit bestanden habe, gewinne ich ein Stipendium des Landes Baden-Württemberg für ein Austauschjahr in den USA. Ich will herausfinden, was wirklich im Rollstuhl möglich ist, ein Aufenthalt in den Staaten ist dazu ideal. Allein schon wegen der physischen Barrieren empfinde ich den Umgang mit meinen Kommilitonen oft als mühsam. Immer muss ich auf sie zugehen und beweisen, dass ich genauso cool sein kann. Deshalb führt mich der Weg aus Deutschland weg, »Handikap« klingt deutlich attraktiver als das B-Wort, das ich auch heute noch kaum über die Lippen bringe.
    Aus dem einen Studienjahr in North Carolina, im Südosten der USA, werden insgesamt fast vier Jahre, die mir helfen, ein Leben mit Handikap aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Erst hier lerne ich, dass im Rollstuhl unterwegs zu sein per se nichts Außergewöhnliches ist, Millionen Amerikaner bewegen sich auf diese Weise fort. Vielleicht musste ich deshalb ohne Jenny in die USA gehen, vielleicht musste ich mich auch von ihr lösen, um mich in meiner Rolle in Amerika neu finden zu können.
    Hier ist nichts unmöglich, ich lerne klettern, Wasserski fahren, ich rafte in unberührten Naturparks und fahre eintausend Kilometer bei zwei organisierten Handbike-Touren. Ich bin weiß, jung und sitze im Rollstuhl, damit gehöre ich in Amerika zu keiner schützenswerten Minderheit. Entsprechend fallen damit auch die mir aus Deutschland bekannten Vergünstigungen etwa an der Theaterkasse weg, und eine Begleitperson darf jetzt auch nicht mehr kostenlos mitkommen.
    North Carolina ist bald meine neue Heimat. Hier lockte mich die Natur, die unberührten Wälder sind oftmals mit einem »wheelchair trail« ausgestattet. Bestimmt helfen auch die über 250 Sonnentage im Jahr, viele Barrieren im Denken scheinen sich hier wie Frühnebel bei den ersten Sonnenstrahlen aufzulösen.
    Nach dem Studienabschluss nehmen meine Freundin Elaine, die seit einem Sturz vom Dach ihres Elternhauses gelähmt ist, und ich uns eine einmonatige Auszeit. Sie kündigt ihren Job, und ich bitte meinen zukünftigen Arbeitgeber, noch etwas auf mich zu warten (woran er allerdings, wie ich nach meiner Rückkehr erfahre, überhaupt nicht dachte). In meinem alten Pontiac Sunbird fahren wir los, immer Richtung Westen.
    Auf der Rückbank liegen unsere Rollstühle, im Kofferraum befindet sich das gesamte restliche Gepäck. Niemand hat uns glauben wollen, dass wir uns beide samt Rollstuhl auf den Weg machen würden, noch dazu in einem zehn Jahre alten Auto. Unser Reiseführer, ein Guide für Budgetreisende, verrät uns die schönsten Übernachtungsmöglichkeiten auf unserem über 9000 Kilometer langen Weg. Bei dieser Form des Reisens geht es keineswegs darum, möglichst günstig unterzukommen und Geld zu sparen, sondern Land und Leute näher kennenzulernen. Budgetreisen als Lebenseinstellung, denn nicht die Sehenswürdigkeiten machen ein Land aus, sondern die Menschen, die dort zu Hause sind.
    In jedem Nationalpark campieren wir: Zwei Menschen im Rollstuhl bauen selbständig ihr kleines Zelt auf, vor dem dann nachts zwei leere Gefährte stehen. Rollstuhlgerechte Einrichtungen gibt es hier überall.
    Wir können einfach drauflos fahren und anhalten, wo immer es uns gefällt. Das erste Mal seit der Highschool fahre ich wieder durch Nebraska und frage mich, wie ich es hier zehn Monate aushalten konnte. Endlose Weizenfelder, so weit das Auge reicht, streckenweise bekommen wir mit unserem Radio nicht einmal einen Sender herein.
    In dem einzigen Waldgebiet, das ein unter Heimweh leidender europäischer Farmer vor 100 Jahren angepflanzt hat, übernachten wir, bevor wir am nächsten Tag auf schnellstem Weg die Staatsgrenze überqueren. Hier waren wir lang genug.
    Sosehr ich jeden Moment dieser Reise genieße, fehlt mir die eigene körperliche Bewegung doch sehr. Alles ist bequem erreichbar, und das viele Sitzen im Auto lässt uns auch nicht gerade leichter werden, ganz im Gegenteil. Das stört auch besonders Elaine, die frühere »Ms. Wheelchair« von North Carolina, die sich ihr Gewicht über die Jahre »erarbeitet« hat.

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