Dem eigenen Leben auf der Spur
Nicht einmal beim Sex verbrauchen wir Kalorien, zumindest eine von beiden Personen sollte sich doch uneingeschränkt bewegen können. Elaine hat wie ich keine Sensibilität unterhalb des Bauchnabels, und manchmal bin ich mir bei der ersten Berührung nicht sicher, welches Bein ich gerade streichele. Oft lachen wir darüber: »Dein Bein oder mein Bein?«
In der Stille Gott erfahren
Ein unverschlossenes Haus, neben einer Baustelle. Erst nach genauem Hinsehen habe ich das Muschelzeichen entdeckt. Ich bin angekommen, wieder einmal, wie bislang an jedem Abend, egal unter welchen Bedingungen. Nur ein paar Meter entfernt befindet sich ein Supermarkt, eine Art umgebautes Wohnzimmer, ein Restaurant liegt einen Kilometer entfernt auf dem Berg. Damit ist entschieden, wo ich heute zu Abend essen werde.
Plötzlich meine ich, den Reiz dieser Reise zu verstehen: Es ist wie mit sechzehn im Ferienlager. Den ganzen Tag an der frischen Luft mit aufregenden Erlebnissen, und abends ein einfaches Essen in einer gemütlichen Herberge. Und hier bin ich sogar noch selbst der Gruppenleiter.
Wenn ich morgen gut vorankomme, werde ich Don Blas treffen. Wird er verblüfft sein, dass ich mich trotz seiner Skepsis auf den Weg gemacht habe? Im Frühling hatte ich ihn mit Unterstützung einer spanischen Arbeitskollegin von Frankfurt aus angerufen, um Details über den Weg zu erfahren. Er kennt den Weg aus dem Effeff, war er es doch, der die gelben Wegpfeile, die inzwischen eine Art Logo der Vía de la Plata und der übrigen Jakobswege geworden sind, über eine Strecke von Hunderten von Kilometern angebracht hat. Wir mussten das Telefon sehr lange klingeln lassen, doch endlich hob er ab. Ich stellte mir lange, klosterartige Gänge vor, durch die das Ringen hallt und er mit wehendem Gewand zum Telefon eilt und den Hörer ergreift. Don Blas bat meine Kollegin, mich zu begleiten, denn er kenne keinen Menschen, der diesen Weg bisher im Rollstuhl gefahren sei.
In Aldeanueva del Camino
Seine Herberge in Fuenterroble de Salvatierra bietet Platz für weit über 50 Pilger. Hoffentlich treffe ich dort endlich auch wieder auf andere Menschen. Zwar lehrt mich die Einsamkeit viel, vor allem, wie gut ich mit mir klarkomme; etwas mehr Austausch wäre dennoch schön.
Am nächsten Morgen lasse ich Aldeanueva del Camino hinter mir, und wenige Kilometer später überhaupt die Extremadura. Ich überschreite die Grenze zur Provinz Kastilien und León. Die gesamte Zeit geht es bergauf. Freundlich winkende Polizisten fahren an mir vorbei, natürlich trage ich meine Sicherheitsweste auf dem Standstreifen dieser mäßig befahrenen Landstraße. Ein letztes Mal spüre ich die große Hitze der Extremadura, während ich mich Meter für Meter auf dem sich aufheizenden Asphalt hochschraube, wie ein Drachenflieger im Aufwind.
Vor mir liegen von der Sonne getrocknete, ausgedörrte Feigen, die von den Bäumen heruntergefallen sind. In den engen Kurven hält niemand an, um die süßen Kraftspender aufzulesen. Ich freue mich über die kleine Ernte.
Das große Schild, das den Reisenden in »Castilla y León« begrüßt, erfüllt mich mit Wehmut. Hier in der Meseta, einer Hochebene zwischen 600 und 900 Metern, ist es schon merklich kühler, und ich lasse etwas sehr Liebgewonnenes hinter mir: den feurigen Atem und die Leidenschaft der Extremadura.
Die Feigen machen durstig. Wie ein Kind freue ich mich über einen kleinen Brunnen am Rand eines schattigen Waldwegs. Ein von einem Hof kommender Gartenschlauch füllt eine mauerartige Tränke. Das Wasser plätschert leise und friedlich in das moosige Gestein. Ich wasche meine klebrigen Hände, lösche meinen Durst und fülle meine Wasserflasche auf.
Wenn ich es heute noch zu Don Blas schaffen möchte, muss ich mich beeilen. Es ist Mittag, und die Bergpassage hat länger gedauert als angenommen. Oder sind die Feigen schuld?
Ich komme durch ein malerisches Tal, in der Ferne sehe ich die Autobahnbrücke, unter der ich vor einer Stunde noch durchgefahren bin. Nichts ist hier von dem tobenden Lärm zu hören.
Plötzlich entdecke ich wieder einen römischen Meilenstein. Ich muss ihn anfassen, ich fühle mich magisch von diesen historischen Zeugen angezogen.
Heute will ich es einmal beherzigen: Hetzen hilft nicht, ich komme dadurch auf den langen Distanzen nicht nennenswert früher an. Damit steht fest, dass ich in Calzada de Béjar, einem Ort mit nur ein paar Dutzend Einwohnern, Station machen werde. Don Blas
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