Dem eigenen Leben auf der Spur
günstig ist und dabei so gut schmeckt. Auf der nördlichen Pilgerroute gibt es am Kloster Irache einen Weinbrunnen, an dem sich der vorbeiziehende Wanderer selbst bedienen kann. Sooft und solange er will, auch wenn es offiziell heißt, dass die Pforte zum Brunnen ab 22 Uhr geschlossen sei. Das wurde ein netter Abend auf meinem ersten Jakobsweg. In einer Ecke ist eine Webcam angebracht, die man auch dazu missbrauchen kann, um Freunden und Kollegen von der harten Wanderung aus virtuell zuzuprosten...
Vor mir liegen nur Wiesen, Wälder und eine historische römische Siedlung, bei der sich auch die einzige Wasserstelle auf der gesamten Tagesstrecke befindet. Elenas mütterlichen Rat, zwei Flaschen Wasser mitzunehmen, schlug ich in den Wind. Bloß kein zusätzliches Gewicht. Um vor der langen Siesta bei der nächsten Informationsstelle anzukommen, hetze ich über eine der schönsten Strecken der Extremadura, die Cañadas Reales. Auf diesen ursprünglichen Viehwegen »Cañadas« wurden vor Jahrhunderten riesige Schafherden von Süden nach Norden getrieben, um zwischen den Sommer- und Winterweiden zu wechseln. Die Schafzucht war im Spätmittelalter ein bedeutender Wirtschaftsfaktor Kastiliens, und dank seiner Wollausfuhren wurde die Region zu einer der reichsten in Europa. In den besten Zeiten gab es hier zirka zwei Millionen Schafe. Diese sehenswerten Wege waren damals bis zu 75 Meter breit, wurden wegen ihrer Bedeutung gesetzlich geschützt und den wichtigsten von ihnen verlieh man sogar den Zusatz »königlich«.
Weil ich hier so aufs Tempo drücke und fast atemlos durchrausche, muss ich an meine Arbeit denken. Wie oft habe ich Dinge mit Hochdruck vorangeschoben und Nachtschichten absolviert, nur damit etwas fristgerecht fertig wurde, um dann womöglich ungelesen auf einem Laufwerk zu verschimmeln. Fange ich jetzt schon damit an, mir diesen Rhythmus auch beim Pilgern aufzuerlegen, und sei es nur für kurze Phasen? Aber was soll ich tun, die Warnung meines Reiseführers, auf dieser Etappe besser die Füße unter den Arm zu nehmen, war nicht misszuverstehen.
Die Zwischenstation Cáparra entpuppt sich für mich als nächster großer Reinfall. Die einsame Ausgrabungsstelle verfügt nur über einen Weg zum Informationszentrum, und der ist für mich unpassierbar. Hier kann ich meine Wasserflasche unmöglich auffüllen. Zornig ziehe ich weiter. Wofür habe ich mich beeilt? Merksatz: Es lohnt sich nicht, sich für etwas Zukünftiges abzuhetzen und dabei die Gegenwart zu vergessen. Wie oft muss ich noch daran erinnert werden, wann habe ich es endlich begriffen!
Mein Tor zum Glück? Der Torbogen von Cáparra
Die Guardia Civil Traffico überholt mich, zwei Polizisten schauen zu mir herüber und fahren auf der Landstraße weiter. Nur Augenblicke später drehen sie um und folgen mir auf meine Wanderpiste. Sie steigen aus und erklären mir, dass der Weg im Rollstuhl bald unpassierbar wird. Die Alternativroute, die sie mir zeigen, bedeutet einen deutlichen Umweg. Ist nicht die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine Gerade? Das hier sieht eher wie eine Sinuskurve aus.
»Necessitas una cosa mas?«, fragen sie mich. Ob ich etwas bräuchte? Ich bitte sie um etwas Wasser, woraufhin mir einer der beiden seine eigene Wasserflasche gibt. Ein Geschenk des Himmels — voller Zuversicht und dankbar kann ich weiterfahren.
Mit einer Hand ziehe ich mich später erschöpft an der Leitplanke hoch, die Zunge klebt fest am Gaumen. 50 Kilometer liegen hinter mir, und jetzt noch eine letzte Steigung vor mir. Die Strommasten sind mit Storchennestern besetzt, aber ich sehe sie nicht wirklich, sondern fühle mich wie eine schwabbelige Qualle. Ich habe ein Stadium erreicht, in dem ich mich sogar schieben lassen würde. Nur von wem? Ich ziehe mich an der Leitplanke Stück für Stück vorwärts, wobei das Rad am Metall entlang schabt und blockiert. »Atemzug, Antreiben, Atemzug«, fällt mir Beppo der Straßenkehrer aus »Momo« ein. Tatsächlich, es funktioniert.
»Rollstuhlgerecht«
Ein Praxistest im Haus meiner Eltern soll zeigen, inwieweit ich in der Lage bin, ein Leben außerhalb der Schutzatmosphäre der Klinik zu meistern. Fünf Monate vor meinem Unfall war ich durch das Garagentor mit meinem Motorrad auf zwei Rädern weggefahren, nun komme ich auf vieren zurück. Mit einem aufwändigen Kellerumbau richten mir meine Eltern in der früheren Waschküche und im Wein- und Lagerungskeller eine
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