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Dem eigenen Leben auf der Spur

Dem eigenen Leben auf der Spur

Titel: Dem eigenen Leben auf der Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Bernhard
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bei mir, nicht als meine Therapeutin. Wir begegnen uns auf Augenhöhe.
    Für einen peinlichen Tiefpunkt sorgt meine Stiefmutter. »Für die Behandlungen im Bett«, sagt sie beiläufig, als sie uns eine kleine, goldene und ausgesprochen hässliche Lampe auf den Nachttisch stellt. Jenny und ich fragen sie, welche Behandlungen sie genau meine, erhalten aber natürlich keine nähere Auskunft.
    Meine 93-jährige Tante Alix dagegen ist viel zu neugierig, um noch groß auf Etikette achten zu wollen. In ihrem Alter brauche sie das nicht mehr, meint sie verschmitzt, und fragt mich also ganz direkt, wie das denn mit dem Sex sei. Mit einer alten Dame könne ich doch offen darüber sprechen. Ich beruhige sie und erkläre ihr augenzwinkernd alles, was sie wissen möchte.
     
    Direkt vor dem Studentenwohnheim liegt ein kleiner Hügel, der auf unbefahrenen kleinen Straßen gut zu erreichen ist. Von hier aus kann man einen besonders schönen Blick auf Freiburg werfen. Zweimal mache ich mich auf den Weg dorthin, und jedes Mal kehre ich frustriert um. Ich empfinde Rollstuhlfahren als ineffizient und ausgesprochen mühsam und denke dabei immer an die Schulter- und Handgelenke, die für diese extreme Belastung nicht konzipiert sind. Aber wer weiß, vielleicht muss ich ja doch mein gesamtes Leben im Rollstuhl verbringen?
    Trotzdem träume ich insgeheim immer von ausgedehnten Wanderungen mit Zelt und Rucksack auf dem Rücken. »Ich verstehe gar nicht, warum du dich so aufregst, mit deiner Freundin kommst du doch überall hin und kannst alles erreichen«, erklärt mir eine Kommilitonin, bevor sie sich in ein buddhistisches Kloster nach Frankreich verabschiedet.
    Ich aber will alles allein erreichen, es ist der Vergleich vorher — nachher, der mich hemmt und verhindert, dass ich den Augenblick annehmen kann und die Chancen, die in ihm stecken. Wie hatte der Arzt gemeint? »Sie werden drei Jahre brauchen, bis Ihr Kopf auch im Rollstuhl sitzt.« Vielleicht ist ja doch etwas Wahres dran, und ich durchlebe nur den ganz normalen Psychostress.
    Ich verbringe das gesamte Grundstudium ärztlich verordnet »stoned«. Die Apotheke liefert mir sogar ein Weihnachtsgeschenk, so viele Medikamente beziehe ich über sie. In höchsten Dosen nehme ich zum Beispiel ein Medikament, das den Nervenreiz im Blasenmuskel reduzieren und Inkontinenz verhindern soll. Als Nebenwirkung stoppen die Zellen ihre Transmitterfunktion, womit allerdings auch die Wärmeregulierung der Haut durch Transpiration beendet ist.
    Den ganzen Sommer über bin ich mit hochrotem Kopf und Schwindelgefühl unterwegs. Unmittelbar nach der Einnahme morgens und abends kann ich nur noch liegen und fühle mich am ganzen Körper wie gelähmt. Es ist, als würde ich für eine Stunde in eine dunkle, schwarze Höhle hinabsteigen. Für den Rest des Tages bin ich zugedröhnt.
    Wie hätte es auch anders sein können: In diesen Monaten widme ich meiner vollständigen Rehabilitation deutlich mehr Zeit als dem Studium. Es geht nicht anders. Ich will meiner Maxime treu bleiben, sobald wie möglich wieder ein normales, vom Rollstuhl weitgehend uneingeschränktes Leben führen zu können, die Arbeit an mir muss also mein oberstes Gebot sein.
     
    Trotz der Medikamente wird der Blasenspasmus nicht richtig unterbunden. Die autonom kontrahierende Blase zwingt mich mehrmals in der Woche, meine Tagesplanung komplett über den Haufen zu werfen. Wo ich dann auch bin, ich breche alles ab, um nach Hause zurückzukehren, zu duschen und die Hose zu wechseln. Als 19-Jähriger sind Inkontinenz und der Gestank von Urin Dinge, die ich aufs heftigste verachtete, jetzt kann ich mich dafür nur selbst schlagen. Ich wüte und weine, es hilft nichts.
    Es ist unmöglich, die seelische Verarbeitung des Verlustes weiter aufzuschieben. Jede Bewegung, jeder Handgriff lassen mich spüren, dass ich nicht mehr Herr im eigenen Hause bin. Ohnmächtige Verzweiflung überkommt mich, wenn der Körper nicht die Befehle ausführt, die ich als junger gesunder Mensch von ihm erwarten würde.
    Voller Wut schlage ich mit meinen Fäusten die Beine grün und blau, in der Hoffnung, wenn der Schmerz nur groß genug ist, sie endlich wieder zu spüren. Ich fühle mich wie Mike Tyson im Ring, der allerdings gegen seinen eigenen Körper kämpft.
    Ein Freund im Rollstuhl erzählte mir, dass er vor lauter Verzweiflung mit einem Hammer auf seine Beine eingeschlagen habe. So weit habe ich es nie kommen lassen. Nur einmal bekomme ich es gehörig mit der

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