Dem eigenen Leben auf der Spur
weiter Ferne hörte ich, wie mein Vater am Telefon allen die schreckliche Nachricht mitteilte. Mit mir redete er nicht mehr. Auch später erklärte mir keiner, was geschehen war, man ließ mich in dem Glauben, es sei ein Unfall gewesen. Ein Autounfall. Bis zu meinem Abitur sollte ich die Geschichte so erzählen.
Meine Brüder kamen zurück, und wir saßen alle mit roten Augen um einen Tisch im Hotelrestaurant. Alle schwiegen wir, jeder ging auf seine Art und Weise isoliert damit um.
»Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich mit ihr spazieren gegangen und hätte versucht, das Schlimmste zu verhindern«, erklärte uns die Hotelmanagerin. Ich stand nur ratlos daneben, wollte aber nicht nachfragen. Sie war für mich nicht tot, sondern nur fortgegangen. Ich erwartete, dass sie mir zu Hause wieder die Tür aufmachen würde, als ob nichts geschehen wäre.
Die Beerdigung fand am 31. Dezember statt, alles sollte im alten Jahr bleiben.
Ich weigerte mich Abschied zu nehmen, flüchtete mich in eine Scheinwelt und lehnte eine Teilnahme an der Beerdigung ab. Mein mittlerer Bruder, mit dem sie sich zuletzt gestritten hatte, hielt in der Offiziersuniform der Gebirgsjäger Totenwache. Es sah aus, als sühnte er so den Streit, durch den er sich für ihren Selbstmord verantwortlich fühlte.
Als junge Frau war meine Mutter schnurstracks dem Erstbesten in die Arme gelaufen, der sie aus ihrem Elternhaus befreien konnte. Von ihrer Mutter war sie oft geschlagen worden, krankenhausreif, wie es hieß. Diese erste Ehe meiner Mutter wurde kurze Zeit später schon wieder geschieden, und nach einer Affäre mit ihrem Beichtvater heiratete sie, bereits schwanger mit meinem Bruder, meinen Vater. Das Kind kam mit einer Hasenscharte auf die Welt.
Später kam dann endlich ihr lang ersehnter Sonnenschein: Als zweites Kind bekam sie einen blonden Jungen mit blauen Augen, der nie schrie und sehr früh schon sehr selbständig war. Endlich der schöne Junge, der ihrer ebenbürtig war und mit dem sie sich nicht zu schämen brauchte.
Es folgten die sieben Jahre am Persischen Golf und in Nigeria, dann wurde ich geboren. Ich kam in einer Privatklinik in Siegen zur Welt, zu einem von meiner Mutter festgesetzten Termin. Sie hatte die Sterne befragt und eine günstige Konstellation am 22. November festgestellt, Sternzeichen Skorpion, Aszendent Skorpion.
Bei meiner Geburt war sie allein, mein Vater war noch im Ausland und ihre Mutter kam aus Missbilligung nicht zu ihr.
Was war hier nicht zu billigen, fragte ich mich später oft. Die Eltern hatten mit einem Kind ihre kriselnde Ehe retten wollen.
Stierblut
Vielleicht zum ersten Mal auf meiner Wanderung bedauere ich es wirklich, dass die Regeln so streng sind und niemand länger als eine Nacht in seinem Pilgerquartier bleiben darf. In dieser herrschaftlichen Unterkunft mit so hohen Decken, als läge man mitten in einem Kirchenschiff, und dermaßen geschichtsträchtiger Umgebung wäre ich bestimmt noch geblieben.
Aber im von Treppen durchzogenen Salamanca nach einem Alternativquartier zu suchen, empfinde ich als zu kompliziert. Außerdem fällt mir plötzlich auf: Mir ist hier kalt.
Nach wenigen Schritten befinde ich mich vor dem Portal der Kathedrale. Ein letzter Blick, und ich ziehe meines Wegs. Bald schon habe ich die Stadtgrenze von Salamanca erreicht.
Hoch über mir in den Lüften ziehen zwei Adler ihre gleichmäßigen Kreise. Sie scheinen ihre Freiheit auszukosten. Spirituell ermahnen Adler zur Änderung der eigenen Perspektive und zu einem höheren Bewusstsein. Ich nehme die Ermahnung auf, für einen Moment kann ich dadurch sogar den donnernden Schwerverkehr neben mir leichter ertragen.
Die Vía de la Plata buchstabiert sich heute grau und nüchtern: N-630. 50 Meter neben der Nationalstraße verläuft der Trampelpfad der Pilger. Ich bleibe auf dem linken Seitenstreifen, Stirn an Stirn dem entgegenkommenden Verkehr trotzend. Autos. Tausende. Luftsog. Schnell vorankommen, Hauptsache weg hier. Meine Ohrstöpsel, die ich in diesen Momenten immer benutze, geben mir das Gefühl, wie auf Watte zu laufen. Alles ist gedämpft.
Erst jetzt bemerke ich, wie viele Eindrücke ich bei meiner Wanderung über das Gehör aufnehme. In der Stille wird das monotone Knirschen gelegendich von Tierlauten durchbrochen. Schon ein Lufthauch wirkt in dieser Geräuschlosigkeit laut. Ich ziehe mich ganz in mein schallgedämpftes Inneres zurück und hoffe, dass ich diesen Abschnitt bald hinter mir
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