Dem eigenen Leben auf der Spur
habe.
Gleichgültigkeit überfällt mich. Stumpf berühren meine Hände den Reifen. Auf dem flachen harten Asphalt reicht ein leichtes Streicheln, um viele Meter zu rollen. Atmen, antreiben, rollen lassen. Mehr ist hier nicht zu tun. Ab und zu verströmen vorbeifahrende Autos durch ihre offenen Fenster süßliche Gerüche von den künstlichen Luftauffrischern, die am Rückspiegel baumeln. Eine zweifelhafte Abwechslung zu den Abgasen.
An der Straße stehen Warnhinweise, keine Tramper mitzunehmen — das Gefängnis ist kaum zu übersehen. Hier abzuhauen ist bestimmt nicht leicht, die Sicht reicht kilometerweit.
Endlich. Wie ein Autofahrer lese ich auf dem Ausfahrtsschild den Namen des nächsten Ortes, El Cubo della Tierra del Vino. Und genau wie ein Auto, biege ich von der Nationalstraße ab und lasse den Lärm hinter mir. Endlich Stille, wer will auch schon in so ein entlegenes Nest, außer verrückten Pilgern?
Tina heißt die grantige Zugehfrau von Don Thomas, dem steinalten Pater vor Ort. Ich werde von ihr widerwillig zu der Kirche gebracht, in der sich einige Zimmer für Pilger befinden.
Ganz offensichtlich will sie nicht wahrhaben, dass ich allein unterwegs bin, und denkt, ich wolle sie an der Nase herumführen. Allein könnte ich hier nicht bleiben, teilt sie mir mit, ausgeschlossen. In der Herberge sei niemand, der mir helfen könnte, wenn etwas passieren sollte.
Schließlich kann ich sie aber doch überreden, mich für eine Nacht bleiben zu lassen. Sie hilft mir sogar noch über die eine Stufe am Eingang hinweg und verrückt die Betten etwas, damit ich mich in dem Zimmer frei bewegen kann.
Für einen Querschnittgelähmten gibt es zwei Positionen: sitzen oder liegen. Den ganzen Tag eine aktive Sitzhaltung einzunehmen, ist natürlich anstrengend, nur Liegen ist wirklich erholsam. Zudem ist mein Aktivrollstuhl so kompakt konzipiert, dass er keinen Zentimeter zu lang und keinen Zentimeter zu breit ist. Eine Couch fühlt sich da anders an.
Ohne Umschweife lege ich mich ins Bett und genieße die Stille. Erschöpft wie ich bin, bleibe ich sehr lange liegen. Zu jeder vollen Stunde höre ich das Läuten der Kirchenglocken direkt neben meinem Bett.
Plötzlich weckt mich ein verschrobener Padre und fährt mich an: »Warum hast du die Betten verschoben?«
Mit dem Finger zeige ich auf den Rollstuhl, was ihn abrupt gnädig stimmt. Er nimmt jetzt sogar meine nasse Wäsche zum Trocknen mit und lädt mich zum Abendessen zu sich nach Hause ein. Es ist 5 Uhr nachmittags.
»Du bist Martine«, sage ich zu der jungen Frau, die plötzlich vor meinem Bett steht. »Dein Ausweis liegt in Salamanca in der Herberge, soll ich dir von dem Herbergsvater ausrichten.«
Eine ungewöhnlich schroffe Begrüßung, wie ich mich selbst gleich tadle. Ich bin etwas verwirrt. Nach all den raunenden Andeutungen hatte ich sie mir anders vorgestellt, irgendwie hübscher. Wie aber soll jemand nach sechs Stunden Staub- und Abgasschlucken noch gut aussehen?
»Mein Freund Thomas und ich nehmen das Zimmer auf der anderen Seite, aber du hast das einzige Bad. Dürfen wir es mitbenutzen?« Ein hagerer Schweizer gesellt sich zu ihr, der mit seinem Mützchen aussieht, als käme er direkt von der Alm.
»Einverstanden, räumt einfach meine Sachen zur Seite.« Ich lade sie ein, mit mir zusammen bei Don Thomas zu Abend zu essen.
Wir kaufen im Supermarkt noch eine Flasche Wein als Geschenk und unseren Proviant für den nächsten Tag, dann suchen wir den Pater auf.
Seine Wohnung befindet sich direkt neben der Bar, wohin wir eigentlich viel lieber gegangen wären, um uns in Ruhe zu unterhalten. In der ärmlich engen Behausung von Don Thomas hängen die Decken so tief, dass Martine und Thomas ihre Köpfe einziehen müssen. Kein einziges Bild hängt an den weiß getünchten Wänden des schmalen Ganges zur Küche. Überall stehen dafür Mausefallen herum, auf einer gammeligen Kommode liegt Rattengift aus.
Unseren Wein lehnt der Gastgeber rundweg ab. »No me gusta«, fertigt er uns ab und holt eine offene Flasche mit Sangre de Torre, einem schweren Rotwein, aus dem Schrank. Stierblut nennen das die Spanier.
Wir sitzen an dem kleinen runden Tisch in der schmutzigen Küche und lachen angesichts der skurrilen Situation still vor uns hin. Er kocht nur für uns, da er selbst schon gegessen hat, wie er sagt.
»Ob er uns wohl Rattengift serviert?«, frage ich auf Englisch in die Runde, und in unserer Fantasie sehen wir uns schon im Garten verscharrt.
Das
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