Dem eigenen Leben auf der Spur
Essen ist lausig. Wahrscheinlich wartet jeder von uns heimlich auf die Wirkung des Giftes.
»Wer weiß eigentlich, dass wir hier sind? Meinen Aufenthaltsort kennt niemand, ihr beide seid die einzigen Zeugen«, spinne ich die Geschichte munter weiter. Wer würde uns schon im Garten eines Padre suchen!
Nach dem Essen erbittet Don Thomas eine Spende für seine Auslagen. Die Scheine, die wir ihm geben, reichen ihm jedoch nicht. Er bekommt einen Wutanfall. »Täglich kommen Pilger, und ich muss sie alle bekochen. Von dem Wenigen, was ihr mir gebt, kann ich unmöglich morgen für die nächsten Pilger sorgen.« Dabei hatten wir dem gierigen Gottesmann mehr gegeben, als wir in der benachbarten Bar für das ganze Essen inklusive aller Getränke bezahlt hätten.
Nach einem gemeinsamen Foto beruhigt er sich dann doch und bittet uns, es ihm zuzusenden. »Tienes Internet?« Unsere Frage nach einem Internetanschluss versteht er nicht, er will das Foto einfach per Post geschickt bekommen.
In der Herberge trinken wir im Schein der brennenden Altarkerze unser Gastgeschenk anschließend selbst. Uns kullern die Tränen vor Lachen über die Wangen. Wie konnten wir so naiv sein zu erwarten, dass der geschäftstüchtige Padre eine herzliche Einladung aussprechen würde. Er wollte seine kleine Rente aufbessern, mehr nicht, und wer ist dafür besser geeignet als die täglich vorbeiziehende Karawane der Pilger, die alle vergleichsweise gut mit Geld ausgestattet sind.
Martine arbeitet als Kindergärtnerin. Nach einem Jobwechsel nutzt sie die Zeit auf der Vía de la Plata, um Gott näher zu kommen. Erst vor einigen Jahren ist sie nach Abschluss ihres Studiums schon einmal allein von Holland nach Santiago gelaufen. Sie kann es überhaupt nicht verstehen, dass meine Freunde und Kollegen es merkwürdig finden, dass ich so lange auf dem Jakobsweg unterwegs bin.
Der Bekanntenkreis von Thomas ist wie meiner weniger sehnsüchtig nach Weite, Selbsterkenntnis und spiritueller Erfahrung. Jakobspilger befinden sich nicht darunter. Er arbeitet in Berlin als Drehbuchautor, hauptsächlich schreibt er für Schweizer Produktionen. Er geht den Weg in drei Etappen und begründet seine Motivation mit Heidegger: »Der Mensch muss sich vergrößern.« Vielleicht soll der Mensch auch nur die Größe durchschreiten, lautet seine Interpretation. »1000 Kilometer sind doch schon ein großer Anfang«, erklärt er.
In meinem Zimmer hängt ein Plakat: »Un amor es grand, cuando es libre.« Mit diesem Satz schlafe ich ein, die brennende Altarkerze taucht den Raum in warmes Licht.
Kein Durchgang
Für mich sind Wallfahrten und Pilgerschaften grundsätzlich verschiedene Dinge. Wir sind alle Pilger, und auch wenn wir uns körperlich nicht bewegen, so fließt doch ständig alles. Wir entwickeln unsere Sicht auf die Welt weiter, wir schließen neue Freundschaften und beenden alte. Vielleicht suchen wir uns einen neuen Arbeitsplatz oder einen neuen Wohnort. Wir befinden uns stets auf der Reise.
Fragt ein erstaunter Tourist einen Mönch im Kloster: Warum haben Sie denn so wenig Sachen? Entgegnet der Mönch: Wo sind denn Ihre? Aber ich bin doch nur auf der Durchreise, erklärt der verblüffte Tourist. Sehen Sie, wir auch.
Eine Wallfahrt ist religiös motiviert, um Buße zu tun oder ein Versprechen einzuhalten. Vielleicht erhofft sich derjenige auch, am Grab des heiligen Jakobus in Santiago de Compostela etwas zu erhalten. Das ist weder gut noch schlecht, sondern lediglich anders als eine spirituell motivierte Pilgerschaft.
Der Jakobsweg ist so breit wie lang, jeder muss seinen eigenen finden und gehen. Die Gründe, sich auf den Weg zu machen, sind für jeden Pilger andere. Pilgern ist ein Ethos, eine Lebenseinstellung, eine Geisteshaltung. Eine Wallfahrt dagegen ist eine Reise zu einem heiligen Ort auf dieser Welt, nach Rom, nach Jerusalem, oder eben nach Santiago.
Ironischerweise habe ich noch nie das tatsächliche Grab des heiligen Jakobus in Santiago aufsuchen können: Der Durchgang ist zu eng für meinen Rollstuhl.
Am nächsten Morgen verlassen wir die Kirche bzw. unsere Herberge jeder allein. »Martine möchte die ersten Stunden des Tages immer allein sein«, verabschiedet sich Thomas als Erster.
Es ist kalt, bei dem neunten Glockenschlag, den ich hinter mir höre, befinde ich mich auf einem Weideweg in Richtung Zamora. Erst von hier aus sehe ich, dass am Turm unserer Kirche Lautsprecher befestigt sind. Die Glocken, die mich gestern
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